In seiner künstlerischen Praxis entwickelt Jeronimo Voss zumeist installative Werke, die sich als vielschichtige Entwürfe von Geschichts- und Parallelwelten lesen lassen. Anhand von Diamontagen und diverser Projektionsverfahren kreiert er hierbei narrative Raumsituationen, die sich nicht nur durch eine zeitliche Ineinanderblendung von Vergangenem, Gegenwärtigem und Zukünftigem auszeichnen, sondern darin zugleich den produktiven Überlagerungen zwischen Bildrealität und gesellschaftlicher Lebenswirklichkeit nachspüren. Wiederkehrende Schwerpunkte seiner künstlerischen Auseinandersetzung finden sich in den kosmopolitischen Interpretationen astronomischer Hypothesen und der kritischen Beleuchtung neoliberaler Fortschrittsversprechen.
Kassandras Höhle
Die Grundlage für Jeronimo Voss’ neuen Werkkomplex Kassandras Höhle bildet die mythologische Figur der Seherin Kassandra (1). Ausgehend von ihrer prägnanten Rolle als Weissagerin, die von ihrer Umwelt keinerlei Gehör findet, folgt Voss in seinem Werk der für die Ausstellung zentralen Frage, welche Bedeutung das Potenzial utopischer Ideen- und Handlungsperspektiven innerhalb unserer Beschäftigung mit Zukunftsoptionen einnimmt. Hierfür hat Voss sieben rechtwinklige Wandelemente ausgewählt, die auf verschiedenen Wandhöhen innerhalb der Ausstellungssituation angebracht sind. Deuten die Elemente in ihrer plastischen Simulation eines neuen Raums bereits in loser Weise den Charakter einer kassandrischen Höhle an, so findet sich die Idee eines solch geschützten Ortes zur Entfaltung der eigenen Utopien ebenso in den Motiven der holografisch inszenierten Bilder wieder. Denn nicht nur stammen die darauf ersichtlichen Aufnahmen von Bücherregalen aus den Wohnräumen von Bekannten des Künstlers, sondern zugleich bietet die darin vorhandene Literatur einen vielschichtigen Einblick in die historisch breite Auseinandersetzung mit den wiederkehrenden Phänomenen der Krise, den Systematiken von Ausbeutung und dem Ringen um gesellschaftliche Selbstbestimmung. Zahlreiche Themenfelder, die bereits im Mythos der Kassandra angelegt sind, werden somit als grundlegende Bestandteile der emanzipatorischen Geistesgeschichte erkennbar und verdeutlichen in ihren Weiterentwicklungen gleichermaßen die wichtige Funktion alternativer Zukunftsvorstellungen. Doch während das bisherige Scheitern utopischer Gesellschaftsideen in diesem Zusammenhang zunächst noch mit dem pessimistischen Bild einer an ihrer Lebensrealität verzweifelnden Kassandra übereinstimmt, eröffnet das Werk von Voss an diesem Punkt zugleich eine fortführende Perspektive. Denn gerade die vielfältige Überschneidung von Inhalten in den Bücherregalen unterschiedlicher Personen macht die Beschäftigung des Einzelnen letztlich als Teil eines kollektiven Prozesses lesbar, der das konkrete Potenzial in sich birgt, verändernd in die gesellschaftliche Realität einzuwirken. Im selben Moment veranschaulicht der Hintergrund von Kassandras Schicksal allerdings ebenso, dass das Denken einer anderen Zukunft zwar stets auch auf der Findung neuer Wissenskonzepte beruht, die Realisierung derselben jedoch nie ohne die Ausgestaltung neuer Handlungsformen vollziehbar ist.
(1) In der überlieferten griechischen Mythologie erhält Kassandra als Tochter des trojanischen Königs Priamos von Apollo die Fähigkeit der Weissagung. Nachdem sie Apollos Annäherungsversuche jedoch mehrmals zurückweist, belegt dieser Kassandra mit einem Fluch, woraufhin ihren Prophezeiungen keinerlei Glauben mehr geschenkt wird. So sieht sie in der bald darauf einsetzenden Auseinandersetzung um Troja zwar die Kriegslist der Griechen voraus, kann ihr Wissen aber in keinen praktischen Nutzen gegen die drohende Zerstörung überführen. Einen wichtigen Rückzugsort vor der durch den Krieg zunehmend verrohten Gesellschaft sowie der eigenen Handlungsunfähigkeit bildet für Kassandra die Frauengemeinschaft um Arisbe, welche in einer Höhle am Fluss Skamander ein Leben basierend auf Freundschaft und Wahrhaftigkeit führt. Nach der Eroberung Trojas gelangt Kassandra schließlich als Sklavin des Königs Agamemnon nach Mykene, wo sie aufgrund ihrer Schönheit von dessen eifersüchtiger Frau Klytaimnestra ermordet wird.