There will come soft rains

Das Verschwinden der Bienen, oder: Die Singularität des Tieres
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Srećko Horvat

Am aktuellen Beispiel des „Bienensterbens“ beleuchtet der Essay des Philosophen Srećko Horvat das allgemeine Verhältnis zwischen Mensch und Tier

 

   Eine Frau sitzt lesend auf einer Bank im Central Park, zieht sich die silberne Haarnadel im Essstäbchen-Design aus dem Haar und tötet sich durch einen Stich in den Hals. Derweil auf einer Baustelle stehen Arbeiter herum und unterhalten sich, als urplötzlich jemand abstürzt. Weil die Arbeiter davon ausgehen, dass der Mann versehentlich vom Dach gefallen ist, rennen sie zu der Leiche hinüber. Aber es stürzt noch ein Arbeiter ab, dann der dritte und noch einer und noch einer. Wie auf Magrittes berühmtem Gemälde „Golconda“, wo identische, in dunkle Übermäntel gekleidete Männer mit Bowlerhüten vor einem Hintergrund aus Gebäuden und blauem Himmel herabfallen wie schwere Regentropfen, katapultiert diese Szene uns in das Universum des surrealen paranoiden Science-Fiction-Thrillers „The Happening“ aus dem Jahr 2008 unter der Regie von M. Night Shyamalan. Zur gleichen Zeit erklärt ein Schullehrer, der noch nicht weiß, dass das Unheil längst seinen Lauf genommen hat, Albert Einstein habe einst gesagt, die Menschheit könne ohne Honigbienen nicht länger als vier Jahre überleben.

   Heute ist das Verschwinden der Honigbienen keine Nachricht mehr wert. Wie wir wissen, fing alles damit an, dass im Jahr 2006 in den USA ganze Bienenvölker schlagartig verschwanden. Seither tritt das Phänomen überall in Europa auf, erstreckt sich von Italien, Spanien, Griechenland und Belgien über Deutschland, Frankreich, Portugal bis in die Niederlande und so weiter. Viele Theorien und ein breites Spektrum möglicher Ursachen wurden diskutiert, eingeschlossen Pestizide, Parasiten, Viren, Umweltveränderungen und sogar Strahlung von Mobilfunkmasten. Unter Biologen scheint weiterhin Uneinigkeit zu herrschen, worin die wahren Ursachen des sogenannten „Bienensterbens“ liegen. Ein wissenschaftlicher Nachweis konnte bisher nicht erbracht werden. Allerdings sieht es danach aus, als würde Einsteins prophetischer Warnung, die Menschheit werde das Verschwinden der Honigbienen nicht überleben, inzwischen durchgehend zugestimmt. Warum? Weil es ein Drittel der Lebensmittel, die wir essen, ohne Bienen als wichtigste Bestäuber von Obst, Gemüse, Blumen und Feldfrüchten gar nicht geben würde.

   Wenn wir das Problem des Aussterbens von Tieren beliebiger Gattung, darunter Bienen, in vollem Umfang begreifen wollen, sollten wir uns Jacques Derrida und seiner Auffassung des Tieres zuwenden. In „Das Tier, das ich also bin (weiterzuverfolgen)“, einem Vortrag, den er im Juli 1997 auf dem dritten, seinem Werk gewidmeten Kolloquium in Cerisy-la-Salle gehalten hat, sagt er, dass er gern im Singular den Plural an Tieren zu verstehen gegeben hätte. Derrida geht sogar so weit, dass er jeden Akt der Klassifikation, in dem das Tier im Plural postuliert wird, als „Tiere“, schlicht als Gewalt bezeichnet. „Unter den Nicht-Menschen, und getrennt von den Nicht-Menschen, gibt es eine immense Vielfalt anderer Lebender, die sich in keinem Fall – außer durch Gewalt und interessiertes Verkennen – in die Kategorie dessen homogenisieren lassen, was man das Tier (l’animal) oder die Tierheit (l’animalité) im Allgemeinen nennt.“

   Mit anderen Worten, für Derrida ist es von größter Bedeutung, allgemeines Sprechen über Tiere zu vermeiden. Für ihn gibt es keine „Tiere“. Wer „Tiere“ sagt, habe nicht nur aufgehört zu verstehen, sondern sei schon dabei, das Tier in einen Käfig zu sperren. Warum? Weil es beachtliche Unterschiede zwischen verschiedenen Tierarten gibt.

   Zwei Jahre vor seinem Tod hat Derrida sich erneut mit dieser Problematik beschäftigt, und zwar in einem Dokumentarfilm unter der Regie von Kirby Dick und Amy Ziering aus dem Jahr 2002. „Es gibt keinen Grund, Affen, Bienen, Schlangen, Hunde, Pferde, Arthropoden und Mikroben in ein und dieselbe Kategorie zu sortieren. Es handelt sich um radikal andersartige Organismen des Lebens. Sie als ‚Tier‘ zu bezeichnen und sämtlichst, sowohl den Affen als auch die Ameise, in nur diese eine Kategorie zu stecken, ist eine äußerst gewaltförmige Geste. Vor allem aber ist es eine dumme Geste, alles Lebendige, was nicht menschlich ist, in eine einzige Kategorie zu pressen, theoretisch lächerlich, und sie hat teil an der nur allzu realen Gewalt, die Menschen Tieren antun. Das führt zu Schlachthöfen, zur industriellen Verarbeitung, zu ihrem Verzehr. All diese Gewalt gegenüber Tieren ist keimhaft in jener begrifflichen Simplifizierung enthalten, die von ‚Tieren‘ im Allgemeinen zu sprechen erlaubt.“

   Gewalt fängt nicht erst im Schlachthof an, sondern mit der Klassifizierung. Jedes Mal, wenn ich zu klassifizieren versuche, nehme ich auch schon Bestimmungen vor. Jedes Mal, wenn ich Bestimmungen vornehme, unterstelle ich die Kenntnis einer besonderen Eigenart, obwohl das Gegenteil der Fall ist: Ich definiere und klassifiziere gemäß meiner eigenen Natur. Wie können ein Affe und eine Biene in ein und dieselbe Kategorie passen, die „Tiere“ genannt wird? Wie kann ein Wal mit einer Fliege vergleichbar sein?

   Die beste, wenn auch auf den ersten Blick vollkommen absurde Antwort liefert die fiktive Taxonomie von Tieren, die Jorge Luis Borges in seiner berühmten Erzählung „Die analytische Sprache von John Wilkins“ vorlegt. Die alternative Taxonomie von „Tieren“, entnommen einer alten chinesischen Enzyklopädie („Himmlischer Warenschatz wohltätiger Erkenntnisse“), ordnet jedes Tier einer dieser vierzehn Kategorien zu:

 

Tiere, die dem Kaiser gehören
einbalsamierte Tiere

gezähmte
Milchschweine
Sirenen
Fabeltiere
herrenlose Hunde
in diese Gruppierung gehörige
die sich wie Tolle gebärden
unzählbare
die mit einem ganz feinen Pinsel aus
   Kamelhaar gezeichnet sind
und so weiter
die den Wasserkrug zerbrochen haben
die von Weitem wie Fliegen aussehen

 

   Besser als jeder anderen Klassifikationskritik gelingt es Borges zu zeigen, wie arbiträr der Versuch bleiben muss, die Welt zu kategorisieren. Warum sollte eine fiktive Taxonomie, in der Tiere „dem Kaiser gehören“ können oder „von Weitem wie Fliegen aussehen“, fiktiver sein als beispielsweise die Tierklassifikation von Aristoteles oder die Taxonomie von Linné?

    Es ist kein Zufall, dass Foucault die himmlische Taxonomie von Borges in seinem Vorwort zu „Die Ordnung der Dinge“ verwendet hat. Er gesteht ein, wie belustigt, aber auch erschüttert er gewesen sei: „Bei dem Erstaunen über diese Taxonomie“, so heißt es, „erreicht man mit einem Sprung, was in dieser Aufzählung uns als der exotische Zauber eines anderen Denkens bezeichnet wird – die Grenze unseres Denkens: die schiere Unmöglichkeit, das zu denken.“

   Diesem Paradox müssen wir uns stellen: dass wir nämlich genau im Augenblick der Schöpfung unser eigenes Denksystem begrenzen. „Und der Mensch gab einem jeden Vieh und Vogel unter dem Himmel und Tier auf dem Felde seinen Namen; aber für den Menschen ward keine Gehilfin gefunden, die um ihn wäre.“ (Genesis 2, 20) In der Genesis wird erzählt, dass Adam die Tiere benannt habe, noch bevor Eva geschaffen wurde; Sprache war also schon vor den „Tieren“ da. Den vier verschiedenen Fortbewegungsarten entsprechend klassifiziert die Bibel die Tiere in vier Gattungen: Gehen, Fliegen, Schwimmen, Kriechen. Einerseits ist der Akt der Benennung von Tieren ein Akt autoritärer Gewalt und Herrschaft; andererseits beweist er einmal mehr die Begrenztheit unserer Welt.
   Wir könnten einen detaillierten Überblick über die Entwicklung der Klassifikation geben – von den religiösen Texten über die antike Philosophie inklusive Platon und Aristoteles bis zur Taxonomie von Linné. Gleichgültig, wie fortgeschritten und ausgeklügelt eine neue Klassifizierung auch sein mag, Borges’ fiktionale Klassifikation wird uns nicht verloren gehen. Um das „Tier“ wirklich zu verstehen, reicht es nicht aus, es zu benennen, zu klassifizieren oder zu definieren. Wenn wir das „Tier“ verstehen wollen, sollten wir in der Lage sein, sein Leiden zu verstehen.

   Und das führt uns unausweichlich zu einer der berühmtesten Episoden in der Geschichte der westlichen Philosophie, die von der Figur des Tieres nicht nur gekennzeichnet, sondern bestimmt wird: zu Friedrich Nietzsches geistigem Zusammenbruch am 3. Januar 1889 in Turin. Es gibt viele Deutungen dieser bekannten Geschichte von Nietzsche, der bewusstlos auf der Piazza Carlo Alberto liegt. In der berühmtesten heißt es, er sei Zeuge geworden, wie ein Droschkenkutscher sich über sein Pferd geärgert und angefangen habe, das arme Tier auszupeitschen. Dieser Anblick habe Nietzsche so gewaltig erschüttert, dass er zu dem Pferd gerannt sei, ihm die Arme schützend um den Hals geschlungen habe und anschließend zusammengebrochen sei.

   Sind seine kurzen, als „Wahnbriefe“ bekannten Schriften wirklich die Manifestation eines „Wahnsinns“? Oder resultieren sie aus dem unerträglichen Anblick des leidenden Tieres? War das leidende Pferd tatsächlich nicht mehr als nur ein Auslöser, wie in den meisten Interpretationen behauptet, oder verhielt es sich so, dass Nietzsche in der Lage war, den Plural der Tiere im Singular zu vernehmen? Solange wir „Tiere“ im Plural begreifen, ist es unmöglich, ihr Leiden zu hören. Sobald wir befähigt sind, die Singularität eines Tieres zu verstehen – die Welt, die es trägt, die Welt, die sich durch seine bloße Existenz eröffnet, sowie die Welt, die sich mit seinem Tod schließt – ist es unmöglich, nicht stumm oder sogar wahnsinnig zu werden wie Nietzsche. Das ist der Grund, weshalb die meisten von uns noch „zurechnungsfähig“ sind und so leben, als würden die Tiere um uns herum nicht leiden.

   Paradoxerweise bestand der erste Schritt hin zur Vernichtung der Singularität eines jeden Tieres ausgerechnet in dem Versuch, den Singular in der Pluralität von „Tieren“ zu entdecken, nämlich in der Klassifikation. Anstelle abstrakter „Tiere“ („gehende“, „fliegende“, „schwimmende“, „kriechende“ wie in der Bibel) verfügen wir nunmehr über präzise Ordnungssyteme, während wir den Tieren gleichzeitig ferner stehen als je zuvor. Klassifizierung diente dem Zweck der Rationalisierung, und Rationalisierung diente dem Zweck des Massenmordes.
   Gibt es einen besseren Beleg als den folgenden? In seiner Biografie „Mein Leben und Werk“ von 1922 enthüllt Henry Ford, dass ihm die Eingebung für die Produktion mittels Fließband kam, als er, damals ein junger Mann, einen Schlachthof in Chicago besichtigte. Geschlachtete Tiere, die von Transportketten herabhingen oder auf Laufbändern lagen, rückten von einem Angestellten zum nächsten vor, und jeder einzelne dieser Angestellten hatte eine ganz bestimmte Tätigkeit im Gesamtprozess zu verrichten. Damit zog eine radikale Neuerung in unsere moderne, industrialisierte Zivilisation ein: Zum ersten Mal wurden das neutralisierte Töten und damit eine neue Ebene der Entkopplung des Arbeiters vom Tötungsvorgang eingeführt; zum ersten Mal wurden Maschinen genutzt, um den Prozess der Massenschlachtung zu beschleunigen.
   Einerseits war es der Schlachthof, der zur Entwicklung des Fließbandkapitalismus beigetragen hat, mit zahlreichen Konsequenzen, die wir heute noch spüren und erleben. Andererseits ist es kein Wunder, dass an der Wand neben dem Schreibtisch Adolf Hitlers im Hauptquartier der Nazipartei in München ein lebensgroßes Porträt von Ford hing. Als Hitler 1931 von einem Journalisten der Detroit News gefragt wurde, was das Ford-Porträt an der Wand zu bedeuten habe, erwiderte er: „Ich betrachte Henry Ford als meine Inspiration.“ Bald darauf war Ford der erste Ausländer, der mit dem Adlerschild des Deutschen Reiches ausgezeichnet wurde, und kurze Zeit später ließ Hitler aus seiner Inspiration Wirklichkeit werden. Wo konnte die Rationalität des Tötens, das Fließband als typisches Merkmal des Schlachthofes, bessere Anwendung finden als in den Konzentrationslagern?
   Nicht nur, dass die Juden in Viehwaggons in die Konzentrationslager transportiert wurden; die Wachmannschaften der Lager stammten direkt aus der Fleischindustrie. Wie Charles Patterson in seinem Buch „Für die Tiere ist jeden Tag Treblinka. Über die Ursprünge des industrialisierten Tötens“ gezeigt hat, könnte dies dem Zufall geschuldet sein. Doch auch der Auschwitz-Kommandant Rudolf Höß besaß eine Metzgerei; Kurt Franz, letzter Kommandant in Treblinka, war Metzger; Karl Frenzel, der die Öfen zuerst in Hadamar und anschließend in Sobibor befeuerte, war ebenfalls Metzger, und nicht zuletzt Heinrich Himmler hatte eugenische Versuche auf seiner Hühnerfarm durchgeführt. Und selbst Hitlers persönliche Leibwache war Metzger …

   Viel wichtiger als diese historischen Merkwürdigkeiten und eventuellen Zufälle ist jedoch die Argumentation, auf die Patterson sich bezieht: Die Domestizierung und Unterwerfung der Tiere war das Modell, welches die Umwandlung von Menschen in Sklaven inspiriert hat; und die Zucht domestizierter Tiere führte zu eugenischen Maßnahmen wie Zwangssterilisation, Euthanasie und letztlich Genozid. Obwohl Pattersons Buch viele neue Fragen aufwirft, verweist es darauf, wie die industrielle Rinderschlachtung zumindest indirekt den Weg zur Endlösung freigemacht hat. Genau wie das Fließband bei der Schlachtung von Tieren oder Henry Fords Auto-Produktion den Grundsätzen von Effektivität und Effizienz geschuldet war, so waren auch die Fließbänder von Treblinka derselben Zielsetzung verpflichtet. Genau wie durch das Fließband im Schlachthof eine effizientere Weise des Tötens entstand, die für die Mörder weniger Stress bedeutete, weil von jetzt an jeder einfach nur seinen eigenen Job zu erledigen hatte, so hat das „humane Töten“ einen neuen Beamtentypus wie etwa Adolf Eichmann hervorgebracht. Töten war jetzt institutionalisiert und objektiviert.
   Erst als man anfing, die Juden wie Tiere zu behandeln, als eine Gruppe von Menschen statt im Singular als „Pluralität“ behandelt wurde, die wiederum in Gestalt genau dieser Pluralität in eine falsche Singularität transformiert wurde („der Jude“), war es möglich geworden, die „Endlösung“ zu organisieren. Allerdings darf nicht vergessen werden, dass der Vergleich zwischen Juden und Tieren keine Erfindung der Nazis war. So hat beispielsweise schon Martin Luther Juden mit „tollen Hunden“ und „Schweinen“ gleichgesetzt, und es war Hegel, der die Auffassung vertrat, Juden könnten nicht der deutschen Kultur assimiliert werden, weil sie ein „tierisches Dasein“ fristeten. Dabei ist es gar nicht notwendig, den Blick zurück auf die Vergangenheit zu richten, wo unsere Gegenwart doch voller ähnlicher Beispiele steckt. Nach seinem Besuch im Gazastreifen im Jahr 2009 hatte der ehemalige US-Präsident Jimmy Carter verlauten lassen, dass die Palästinenser dort „eher wie Tiere denn als menschliche Wesen behandelt“ würden. 2014, unmittelbar nachdem die neue „Bodeninvasion“ von Gaza begonnen hatte, äußerte auch der norwegische Arzt Mads Gilbert, der verwundete palästinensische Kinder versorgte, dass die Palästinenser „ein weiteres Mal eher wie Tiere behandelt“ würden. Wenn aber eine ganze Bevölkerung „unmenschlich“ behandelt wird – wie können wir dann erwarten, dass Menschen mit Tieren anders umgehen? Wenn menschliche Wesen noch immer nicht befähigt sind, andere Menschen menschlich zu behandeln – sollten wir uns dann wirklich wundern, dass niemand über einen Genozid an Tieren spricht?
   Selbstverständlich dürfen wir die Figur des Genozids weder missbrauchen noch für erschöpfend diskutiert halten. Aber wie Derrida in seinem Vortrag „Das Tier, das ich also bin (weiterzuverfolgen)“ zeigt, wird besagte Figur hier komplizierter: „Es wäre zwar eine Vernichtung von Arten im Gange, sie würde sich jedoch über die Organisation und Ausbeutung eines künstlichen, infernalischen, virtuell unendlichen Überlebens vollziehen, unter Bedingungen, die Menschen früherer Zeiten für monströs gehalten hätten, für außerhalb aller unterstellten Normen des Lebens, das den Tieren zu eigen ist, die auf diese Weise in ihrem Überleben oder in ihrer Überbevölkerung selbst ausgelöscht werden. So als ob, zum Beispiel, Ärzte oder Genetiker (zum Beispiel nazistische), statt ein Volk in Gaskammern oder Krematorien zu werfen, mittels künstlicher Befruchtung eine Überproduktion und -reproduktion von Juden, Zigeunern und Homosexuellen organisieren, die, immer zahlreicher und immer wohlgenährter, in stetig wachsender Zahl für ein und dieselbe Hölle bestimmt gewesen wären, nämlich die der erzwungenen Genexperimente, der Vernichtung durch Gas oder durch Feuer.“

   Heute sehen wir uns einer Situation gegenüber, in der wir den Schritt über das traditionelle Fließband hinaus schon getan haben. Unsere Klassifikation von Tieren hat nicht nur die Vorbedingungen für deren Vernichtung geschaffen, sondern führte zu einem Albtraum, der in Derridas Vorhersage des künstlichen Überlebens bereits präsent ist. Werfen wir einen Blick in einen neuen zweiminütigen Spielfilm von Greenpeace-Aktivisten, in dem eine nahe Zukunft geschildert wird, in der Bienen vollständig ausgestorben sind. Kein Grund zur Sorge: Felder, die vormals öde und verwüstet waren, erholen sich wieder. Weil die Bienen wieder da sind. Gewöhnliche Bienen, so könnte man glauben; aber nein, bei diesen kleinen Wunderwerken hochentwickelter Robotertechnik handelt es sich um NewBees der zweiten Generation. Ihrem natürlichen Gegenpart haushoch überlegen, sind sie überall auf der Welt erfolgreich eingeführt worden. Der Antrieb erfolgt komplett über Solarenergie, weshalb der aufladungsbedingte Nutzungsausfall einer NewBee sehr gering ist. Durch den Einsatz von Echtzeit-Triangulationstechnologie weiß jede NewBee, welcher Teil des Feldes schon bestäubt ist, was wiederum Effizienz und Ertrag maximiert. Anders als normale Bienen verfügen NewBees über eine vollständige Ausrüstung zur Bekämpfung ihrer natürlichen Feinde. Sobald ein Feind sich nähert, sind die NewBees alarmiert und setzen ein höchst wirksames Insektizid frei, das die Bedrohung in Sekundenschnelle neutralisiert. Nichts kann ihnen Schaden zufügen. NewBees zeigen keine Ermüdung, der Wartungsaufwand ist minimal, und die Produktionskosten betragen einen Bruchteil der Kosten, die für normale Bienen aufgebracht werden müssen. Sie können leicht recycelt, ersetzt und in Betrieb genommen werden. NewBees fügen sich ausgezeichnet in die Natur ein und sind darauf programmiert, uns nichts zuleide zu tun …

   Zum Glück ist dies – bislang – nur Science Fiction, wobei die Idee aus der künstlichen Bestäubung stammt. Aus Fiktion könnte jedoch schon bald Realität werden, denn an der Harvard-Universität arbeitet ein auf Mikro-Robotik spezialisiertes Forschungsteam bereits an der Entwicklung sogenannter „RoboBees“. Dem Projekt „RoboBees“, das 2009 ins Leben gerufen wurde, um den Aufwand für die Erzeugung eines Roboter-Bienenvolkes zu ermitteln, ist es mittlerweile gelungen, künstliche Muskeln zu erzeugen, die einen 120-fachen Flügelschlag pro Sekunde zustande bringen. Derzeit forschen die Wissenschaftler an der Energieversorgung und an Funktionsweisen von Entscheidungsprozessen. Im Sommer 2012 konnten technische Kernprobleme gelöst werden, die einen ersten kontrollierten Flug der „RoboBees“ zuließen.

   Es könnte durchaus noch zwanzig Jahre oder mehr dauern, bis die erste künstliche Bestäubung möglich ist. Trotzdem sollten wir uns folgende Frage stellen: Falls es den Roboter-Bienen wirklich gelingen sollte, Felder zu bestäuben und unser Ökosystem im Gleichgewicht zu halten – worin läge dann die Bedeutung für die Menschheit? Ja, es mag sein, dass wir entgegen Einsteins Prophezeiung in der Lage sind, die Vernichtung der Bienen zu überleben – aber was hätte das Verschwinden des Tieres für die Menschheit als solche zu bedeuten? Was bedeutet der Tod eines Tieres, und was hat es zu bedeuten, wenn eine ganze Gattung ausstirbt?

   Nach Einschätzung einiger Wissenschaftler könnten um das Jahr 2100 bis zur Hälfte der gegenwärtig vorhandenen Pflanzen- und Tiergattungen ausgestorben sein. Ja, wir könnten natürlich zynisch fragen, was denn die durch Menschen verursachte Vernichtung eigentlich sei, verglichen mit mindestens fünf Massenvernichtungen in der Geschichte des Lebens auf der Erde? Was ist zum Beispiel die derzeitige Artenvernichtung im Holozän im Vergleich mit dem Massenaussterben an der Perm-Trias-Grenze vor ungefähr 250 Millionen Jahren, bei dem schätzungsweise 90 Prozent der damaligen Arten ausgelöscht wurden? Können wir uns überhaupt vorstellen, welche Art Leben es in jenem Zeitalter gab und wie unbedeutend unsere eigene Existenz sich aus besagter Perspektive ausnimmt? Rein technisch gesehen, gibt es Leben nach Menschen oder, wie Alan Weisman es in seinem Sachbuch formuliert hat, in dem er sich damit beschäftigt, was wohl mit der natürlichen und bebauten Umwelt geschähe, wenn menschliche Wesen plötzlich verschwänden – da ist eine „Welt ohne uns“. In diesem Fall sind sogar wir, die Menschen, eine Gattung, die mit Leichtigkeit verschwinden könnte; schon nach fünfhundert oder tausend Jahren existierten nur noch wenige (radioaktives Material, Bronzestatuen oder Keramik) oder gar keine Beweise mehr, dass es uns je gegeben hat.

   Unser gegenwärtiges Verhältnis zur Natur ist ambivalent. Einerseits leben wir tatsächlich im sogenannten „Anthropozän“, also einem Zeitalter, in dem menschliche Aktivitäten weltweit erhebliche Auswirkungen auf das Ökosystem nach sich ziehen, was unser Einfluss auf das Verhalten von Bienen am besten illustriert. Und es könnte sein, dass wir sogar noch einen Schritt über die These vom „Anthropozän“ hinausgehen und berücksichtigen müssen, was Timothy Morton als „Ökologie ohne Natur“ bezeichnet hat. Laut Morton besteht das Haupthindernis im Nachdenken über die Umwelt in der Idee von Natur als solcher; wir hingegen müssten den denaturalisierten Charakter von Natur als solcher akzeptieren. Es gehe weniger darum, dass die Menschen die Natur aus ihrem Gefüge bringen, sondern Natur selbst befinde sich nicht im Gleichgewicht. Anders ausgedrückt, genau dieser chaotische Charakter ist es – gewaltige Kata-strophen, Stürme, Fluten etc. – der der Natur selbst entspricht. (Die Folgen der „Naturkatastrophen“ sind selbstverständlich nicht naturgemäß, sondern bereits geprägt von menschlichen Eingriffen – so etwas wie eine „Naturkatastrophe“ gibt es nicht!)
   Und damit haben wir die andere Seite der Medaille vor Augen: Natur ist nicht immer schon das unschuldige Opfer, und nicht immer ist es menschlicher Einfluss, der die Natur verändert „Eyjafjallajökull“ ist, ganz gleich, wie oft wir diesen seltsamen Namen schon gehört haben, noch immer nicht einfach auszusprechen. Trotzdem hat dieser isländische Vulkan das menschliche „Business as usual“ vollständig zum Erliegen gebracht. Infolge seines Ausbruchs waren die europäischen Airlines fast eine ganze Woche lang lahmgelegt. Mehr als 64.000 Flüge waren verspätet oder wurden ganz gestrichen, Millionen Reisende betroffen. Was für uns Menschen nach einer Katastrophe aussieht, ist also exakt das Gegenteil: nämlich „Eyjafjallajökull“ und nicht unser ökologischer Kampf, durch den der CO2-Fußabdruck der Airlines in einem Ausmaß verringert werden konnte, der dem jährlichen Output mehrerer kleiner Staaten zusammen entspricht.
   Diese zwei Seiten der Medaille eröffnen eine unerwartete Wendung. Es ist nicht nur das Tier, sondern die menschliche Gattung selbst, die bald verschwinden könnte. Aus welchen Gründen auch immer die Bienen verschwunden sein mögen, die offizielle Tagline von Shyamalans „The Happening“ scheint die Sache sehr gut zu beschreiben: „We’ve sensed it. We’ve seen the signs. Now … it’s happening.“ Das, was in „The Happening“ geschieht, ist eine verhängnisvolle Katastrophe, in der Menschen rund um die großen Städte an der Ostküste der Vereinigten Staaten auf rätselhafte Weise sterben, und alles sieht danach aus, als sei die Natur die Ursache. Schon bald erweist sich, dass Pflanzen bei dem Versuch, drohende Gefahren abzuwehren, ein geheimnisvolles Nervengift freisetzen, das jeden, der damit in Berührung kommt, zum Suizid verleitet.

   Niemand würde wohl widersprechen (zumindest kein Mensch), dass das Verschwinden der Menschen das Verschwinden einer Welt bedeutet. Zwar wäre es immer noch eine „Welt ohne uns“, aber nicht mehr die gleiche Welt. Wir sollten uns jetzt vorstellen, wie „die Tiere“ die sterbenden Menschen beobachten und uns lediglich als Pluralität begreifen („die Menschen“). Wenn das Verschwinden eines einzigen Menschen das Verschwinden einer ganzen Welt bedeutet (denken wir beispielsweise an die allerletzten Sprecher seltener menschlicher Sprachen) – warum wird das Leiden eines Tieres dann nicht auch als Leiden oder Verschwinden einer Singularität begriffen, nicht nur als Tod eines Tieres, sondern als Verschwinden einer Welt? Vielleicht ist es an der Zeit, die gängige Behauptung umzukehren: „Tiere“ sind möglicherweise nicht so sehr abhängig von uns (weil sie nach unserem Verschwinden als Gattung sicherlich weiterhin existieren würden), sondern es wäre zu fragen, wie sehr wir von ihnen abhängig sind, von eben ihrer Singularität. Warum denken Sie nicht einfach darüber nach, wenn Ihnen das nächste Mal eine Biene begegnet?

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Der Text wurde veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung der Kulturstiftung des Bundes. Er erschien erstmals im Magazin #23 der Kulturstiftung des Bundes im Herbst/Winter 2014.

Deutsche Übersetzung: Jutta Nickel

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Beitrag editiert von Stefan Vicedom

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Soft Rains – 

„This Is Not Water“ - Konfliktzentrum Wasserkraft in Zeiten grüner Paradoxie

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Janosch Birkert

 

Seit Jahrtausenden versucht der Mensch Naturraum für sich nutzbar zu machen, ihn zu formen. Technologischer Fortschritt befähigt den Menschen seit einigen Jahrhunderten dazu, einen Großteil des Naturraums auf unserem Planeten zu kontrollieren und seine bestehende Natürlichkeit in einen ökonomischen oder sozialen Mehrwert umzuwandeln. Vielerorts führt dies zu neuen ökologischen Zuständen, welche neben einem vollständigen Verlust von Biodiversität, auch eine künstliche Natur sein kann. Wasserkraft ist ein Teil dieser Geschichte der natürlichen Ressourcennutzung durch den Menschen. In den vergangenen Dekaden erfuhr sie einen zunehmenden Ausbau und verändert weltweit Natur-Mensch-Beziehungen. Was tun in Zeiten, in denen lokales Handeln und globales Denken nicht mehr ohne einander zu betrachten sind? Hintergrund Im Jahr 2016 wurden weltweit Wasserkraftanlagen mit einer Gesamtleistung von 31,5 GW installiert. In Südamerika verdreifachte sich der Ausbau im Vergleich zum Vorjahr. Für diese Entwicklung sind unterschiedliche Treiber verantwortlich. Neben nationalen Interessen, dem Bedürfnis nach Unabhängigkeit von internationalen Energiemärkten und dem Ausbau erneuerbarer Energien spielt insbesondere die Versorgungssicherheit für energieintensive Schwer- und Großindustrien eine große Rolle. Beispielhaft für diesen Zusammenhang wurden in Perus Minenregionen Großprojekte im Umfang von 1000 MW installiert.[1] Global werden jährlich ca. 4100 TWh Strom durch Wasserkraftwerke produziert, dies ist gleichzeitig der bisher größte Anteil durch erneuerbare Energien und entspricht einem Gesamtanteil von ca. 6,8 % am globalen Primärenergieverbrauch. Von 2005 bis 2015 wuchs die installierte Kapazität um 39%, was einem jährlichen Wachstum von 4% entspricht.[2] Die Internationale Energie Agentur, welche für ihre konservativen Prognosen im Bereich erneuerbare Energien bekannt ist), geht von einem Wachstum des Wasserkraftsektors bis 2025 um weitere 25% auf über 5.000 TWh, bis 2050 auf über 10.000 TWh aus.[3] Die Treiber Anfang der 2000er Jahre wurde der Ausbau von Wasserkraft insbesondere durch den Clean Development Mechanism begünstigt. Der „Mechansimus für Umweltverträgliche Entwicklung“ erlaubte internationalen Geberländern, Entwicklungsländer am globalen Klimaschutz zu beteiligen und gleichzeitig Energietechnologien zu exportieren oder „Best-Practice“-Projekte im internationalen Kontext zu finanzieren.[4] Der vereinbarte Mechanismus unterstützt Unternehmen der Industrienationen eine freiwillige Kompensation von Klimaleistungen durch den Ausbau von erneuerbaren Energien im globalen Süden. Die durch diese Maßnahmen vermiedenen Emissionen können dann durch eine mengenbezogene Bepreisung gehandelt werden – das sogenannte Offsetting. Auf diese Art und Weise können Unternehmen bis heute ihre unvermeidbaren Emissionen „klimaneutral“ schalten und ermöglicht eine Querfinanzierung von Umsetzungen diverser „Klimaschutzprojekte“ weltweit.[5] Wie auch in Peru werden insbesondere auf dem afrikanischen Kontinent überteuerte Großprojekte im Bereich Wasserkraft umgesetzt. Diese intensiven Einschnitte in Ökosysteme, beispielweise dem Kongobecken, haben nicht etwa zum Ziel, die energetisch unterversorgte afrikanische Bevölkerung durch günstigen Strom innerhalb ihrer Wertschöpfung zu fördern, sondern international agierenden Minen- und Bergbauunternehmen eine permanente und stabile Energieversorgung bereitzustellen. Dies ist nicht nur eine Beschleunigung der exportorientierten Wertschöpfung im Land, sondern auch ein Treiber für wachsende globale Ungleichverteilung von Einkommen und Ressourcen, da der Großteil der Kongolesen weder durch Steuergewinn noch durch staatlich geförderten Aufschwung am Gewinn durch den Abbau oder die Nutzung ihrer natürlichen Ressourcen beteiligt wird. Das kongolesische Grand-Inga-Staudammprojekt wird nach Fertigstellung voraussichtlich doppelt soviel Strom produzieren wie der chinesische Drei-Schluchten-Staudamm. Auf dem afrikanischen Kontinent sind immer noch mehr als 600 Millionen Menschen ohne Zugang zum Stromnetz und gleichzeitig ein Großteil der Stromtrassen bereits in privater Hand. Gefördert wird dieser industriefreundliche Ausbau insbesondere durch Finanzierungsmechanismen rund um die internationale Zusammenarbeit und der Entwicklungshilfe.[6] Die Konflikte Die Nutzung von Wasserkraft führt weltweit zu verschiedenen Formen von Nutzungs- und Ressourcenkonflikten. Von geopolitisch großer Bedeutung sind meist transnationale Ober- und Unterliegerkonflikte,[7] in wasserarmen Regionen, die durch den Bau von Großwasserkraftanlagen zusätzlich unter Druck geraten.  Beispielhaft dafür steht der geplante Bau der „Renaissance“-Talsperre im Blauen Nil in Äthiopien. Dieser Bau hätte bedingt durch Verdunstung und den Rückhalt von Flussfracht (Sedimenten) Auswirkungen auf die ägyptische Landwirtschaft, die vollkommen vom Nil abhängig ist und deren Vulnerabilität in Zeiten starker Urbanisierung und Klimawandel steigen wird. Mit dem Bau dieser Talsperre versucht Äthiopien, seine Position in Ostafrika zu stärken. Stromerzeugung, landwirtschaftsfreundliches Bewässerungsmanagement und Hochwasserschutz waren hierbei die entscheidenden Argumente, die Staaten innerhalb des Einzugsgebietes Nil in einem Bündnis mit dem Namen „Nilbecken-Initiative“ (NIB) zusammenschließen. Bisher nicht beigetreten: Ägypten.[8] Ähnlich zugespitzt ist der Konflikt zwischen Tadschikistan und Usbekistan, rund um den Bau des Rogun-Damms. Dort spielen Baumwollproduktionen, energiepolitische Unabhängigkeit und eine unbedachte Bauplanung zu politischen Drohgebärden und diplomatischem Stillstand.[9] Neben den transnationalen politischen Konflikten, sind insbesondere die negativen Auswirkungen auf soziale und ökologische Zustände, im lokalen Kontext, welche durch den Bau von Wasserkraftanlagen entstehen können. Dort spielen die klassischen Nutzungskonflikte zwischen Landwirtschaft (Wasserspeicher für Trockenzeiten) und Wasserkraftbetreiber (Wasserrückhalt für Winterzeit wegen erhöhtem Energiebedarf) in Regionen mit etablierter Landwirtschaft die Hauptrolle, während es hingegen, insbesondere bei Großinfrastrukturprojekten, in Off-Grid oder strukturschwachen Regionen, zu einer Vielzahl an Konfliktlinien zwischen den jeweiligen Akteuren kommen kann. Aus sozioökonomischer Sicht ist die langfristige Teilhabe an der Wertschöpfung für lokale Communities oftmals nicht vorgesehen. Das Recht auf Wasser und lokale Mitbestimmung über die Nutzung von Wasserressourcen kann durch eine neoliberale Wasserpreisberechnung oder Gesetzgebung ausgehebelt werden. Eine ganzheitliche Bewertung von Umweltrisiken nach internationalem Standard und unter Berücksichtigung der lokalen Akteure und Key-Stakeholder ist vielerorts noch kein etabliertes oder transparentes Verfahren. Das bewusste Exkludieren lokaler Akteure und ökologischen Kriterien in Entscheidungsprozesse während der Planungsphase kann zu lokalen Protesten, sozialen Unruhen und Widerstandsbewegungen führen.[10] Ökologisch betrachtet kann Wasserkraft als klimafreundliche Energiequelle bezeichnet werden, doch kann sie im lokalen Kontext durchaus negative Auswirkungen auf die Ökosysteme, Biodiversität und Klima haben. Neben der Freisetzung von Methan, dem Verlust von Kohlenstoffspeichern durch Flutung von Waldflächen, haben (Groß-) Wasserkraftprojekte das Potential endemische Arten und einzigartige Ökosysteme verschwinden zu lassen oder sie durch negative Auswirkungen auf die Umwelt unter Druck zu setzen. Eine weitere Begleiterscheinung ist insbesondere der intensive Ausbau der Infrastrukturen in zuvor strukturschwachen Regionen. Der Bau des Tucurui-Damms in Brasilien hatte erhöhte Abholzungsraten in einem Gebiet von 1000 km2 rund um neue Wasserkraftanlage zur Folge, da der Ausbau des Straßennetzes im Zuge des Großprojektes eine ökonomische Bewirtschaftung von unberührten Waldgebieten ermöglichte.[11] Die Modelle Viele dieser lokalen Auswirkungen auf bestehende soziale, ökologische und sozial-ökologische Systeme sind in dem von Rockström et al. beschriebenen System der Planetary Boundaries wiederzufinden. Der Ansatz beschreibt die Grenzen der Belastbarkeit für das bestehende Erdsystem durch anthropogene Übernutzung, darunter der starke Einfluss des Menschen auf den natürlichen Wasserkreislauf.[12] Betrachtet man Wasserkraftgroßprojekte im Sinne des Anthropozän nach Crutzens „Der Mensch als geologische Kraft“ sind die weltweit errichteten Dämme und Eingriffe in natürliche Wasserkreislauf- und hydrogeologische Systeme durch Begradigung und Übernutzung in Ihrer Wirkung und Unumkehrbarkeit so immens, dass der vermeintliche natürliche „Urzustand“ vielerorts wohl unwiederbringlich verloren ist.[13] Doch wie die Brücke schlagen zwischen den lokalen und realen Ereignissen und den globalen Modellen und Szenarien? Nutzt man ein sozial-ökologisches System (SES)[14] zur Modellierung des Verhältnisses zwischen Gesellschaft und Natur im Kontext der Wasserkraft, fällt schnell auf, dass sowohl Natur (Klimaschutz vs. Biodiversität) als auch Gesellschaft (Local Community vs. Wasserkraftbetreiber/Stromabnehmer) in einem bipolaren SES nicht darstellbar sind. Vielmehr stehen sich ökologische und gesellschaftliche Systeme untereinander konträr gegenüber. Skaliert man dieses Konfliktbild, ein multi-polares SES, von lokal zu global wird deutlich, dass hier ein Paradox vorliegt. Ökologischer und sozioökonomischer Mehrwert (Marktwert) auf globaler Ebene kann demnach einen Verlust sozialer und ökologischer (sowie sozial-ökologischer) Systeme im lokalen Kontext hervorrufen (Verlust Existenzgrundlage und Lebensqualität). Fügt man der multipolaren sozial-ökologischen Betrachtungsweise eine ökonomische Dimension hinzu, wird schnell klar, dass der Treiber für diese Ambivalenz eine marktbedingte Entwicklung der Energiemärkte und der gewinnorientierten Ausrichtung von Energieabnehmern ist. Eine ethische Dimension als Filter und Regulator ist nicht zu erkennen.[15] Sowohl Karl Marx (1867)[16] als auch Christophe Bonneuil (2015)[17] sehen nicht primär „den“ Menschen als Treiber für diese starke anthropogenen Überformung von Naturraum. Sie sprechen von einem „ungleichen (ökologischen) Tausch“ ausgehend von den wertschöpfungsgetriebenen Industriestaaten, durch die permanente Ausbeutung von Natur und Teilen Weltgesellschaft durch eine „kapitalistische Elite“. Denn klar ist, und deshalb ist die sozial-ökologische Perspektive so relevant für die Interpretation der anthropogenen Dominanz und deren Folgen auf dem Erdsystem, dass es neben dem unumkehrbaren Verlust an Naturraum der Mensch selbst ist, der unter seiner eigenen Dominanz leidet - in Zeiten „des Kapitalozän“?[18] Das Werk In ihrer Videoinstallation (Beitrag zur Ausstellung „There Will Come Soft Rains?“, Basis, Frankfurt am Main 2018) setzt sich Carolina Caycedo, die Künstlerin der Installation, mit dieser Entstellung der ursprünglichen sozio-hydrologischen Beziehung zwischen natürlichem Strom und gewinnorientierter Ressourcennutzung am Beispiel der Großwasserkraftanlagen in Südamerika auseinander. Sie erlaubt die Bändigung des Großen Flusses, dreht ihn, wendet ihn beliebig im Film, zähmt ihn, lenkt seine Kraft. Für den einen bildet diese Aufhebung der Natürlichkeit eine Harmonisierung und die Steigerung der Attraktivität ab, für den anderen Betrachter wirkt es wie eine Entstellung, wie das Vorzeigen einer falschen Naturgewalt, einer Naturgewalt, die nicht mehr von sich behaupten kann „nur“ noch Natur zu sein. – „This Is Not Water“.[19] Es scheint bei der Betrachtung von „This Is Not Water“, dass sowohl durch die Wahl des Stilmittels als auch durch die Inszenierung des Betrachtungsgegenstandes „Epoche der Künstlichkeit, in der Natürlichkeit kein Referenzpunkt mehr ist“, in den Fokus gerückt wird. Aber sind wir wirklich „nach der Natur“, wirklich im Anthopozän? Oder ist unsere Dominanz innerhalb des Erdsystems nicht vielmehr ein Teil der Natur, den sie im Laufe ihrer Entwicklung durch ihre resiliente Stärke korrigiert und in ihr Gedächtnis aufnimmt? „Nature after Nature“?[20] Selbst wenn wir Natur in ihrer vermeintlichen Reinform betrachten, sind doch wir es, die sie bewerten, aus anthropogener Perspektive. Kehren wir also zurück zu Marx (Pariser Manuskript 1844): „Die in der menschlichen Geschichte (...) werdende Natur ist die „wirkliche Natur“ des Menschen, darum die Natur, wie sie durch die Industrie, - wenn auch in „entfremdender“ Gestalt – wird, die wahre anthropologische Natur ist.“ Spät haben wir durch Wissenschaft und Philosophie eine säkulare Auffassung von Wetter- oder Naturphänomenen dem mythischen Verständnis entgegensetzen können. Heute müssen wir einen Schritt weiter gehen und akzeptieren, dass nicht nur physikalische Fremdbestimmung unsere Atmosphäre, unser Erdsystem beeinflussen, sondern dass wir es sind, die sich der „Sprache der Götter“[21] ermächtigten und sie nun sprechen lernen müssen.[22] Die anthropogene Überformung von Naturraum kann in vielen Modellen zum Ausdruck gebracht werden. Wichtig ist, dass der Mensch/die Gesellschaft in seinem Wirken auf Naturraum differenziert betrachtet und seine Wirkungskraft innerhalb des Erdsystems (positiver und negativer Impact) anerkannt und verstanden wird. Die Monetarisierung von ökologischem Verlust ist in seiner Bedeutung für unser Handeln immer noch nicht auf Augenhöhe mit den makroökonomischen Kennzahlen unserer Zeit. Schließen wir also mit einer Einschätzung des Wissenschaftliche Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen (WBGU) aus dem Jahre 2011, 4 Jahre vor dem Pariser Klimaschutzabkommen, welches uns bei aller theoretischen Euphorie, auf die realpolitischen Handlungsmöglichkeiten zurückführt: „Die Wasserkraft wird nur geringfügig ausgebaut, da ihr nachhaltiges Potenzial begrenzt ist.“ Und nehmen wir uns vor, diesen Ausbau im Auge zu behalten, ihn ganzheitlich zu gestalten und ihn um eine Vielzahl von Betrachtungsmöglichkeiten zu erweitern.[23] Text: Janosch Birkert Editing: Dr. Felix Silomon-Pflug, Marcela Scarpellini   Titlebild: Carolina Caycedo, “Esto No Es Agua / This Is Not Water”, 2015 Film still 1 channel video HD, Sound and Color, 5’20’’, Sound: Daniel Pineda [1] Interntional Hydropower Association 2017 „Hydropower Status Report 2017“ S. 5, 42-48 https://www.hydropower.org/sites/default/files/publications-docs/2017%20Hydropower%20Status%20Report.pdf [2] World Energy Council 2016 „World Energy Resources 2016“ S. 16 https://www.worldenergy.org/wp-content/uploads/2016/10/World-Energy-Resources-Full-report-2016.10.03.pdf [3] International Energy Agency 2017 „Tracking Clean Energy Process 2017“ Energy Technology Perpectives 2017 Excerpt Informing Energy Sector Transformation S. 26 https://www.iea.org/publications/freepublications/publication/TrackingCleanEnergyProgress2017.pdf [4] Deutscher Bundestag 2016 „Clean Development Mechanism als Instrument der Entwicklungspolitik“ WF VIII – 025/2006 und WF II – 016/2006 https://www.bundestag.de/blob/415004/205d5d3d4a92205495ed17e6122f0773/wf-ii-016-06-pdf-data.pdf [5] Heute wird der Clean Development Mechanism vom Pariser Klimaabkommen langsam abgelöst, geht es jetzt doch um das Reduzieren und nicht um das Kompensieren. Zudem sind neue Standards welche den ökologischen und sozialen Mehrwert der Projekte berücksichtigen zu Marktstabilisatoren geworden. Insbosondere im Bereich der „unvermeidbaren Emissionen“ ist dieser Kompensationsmechanismus durchaus im Sinne des Pariser Klimaabkommens. [6] Aurélien Bernier 2018 „Strom für Afrika“ Le Monde diplomatique deutsche Ausgabe https://monde-diplomatique.de/artikel/!5480793 [7] Konflikte zwischen den Ländern die im oberen Teil des Flusseinzugsgebietes liegen, mit den Ländern im unteren Teil, also stromabwärts [8] Habib Ayeb 2013 „Wem gehört der Fluss?“ Le Monde diplomatique, deutsche Ausgabe https://monde-diplomatique.de/artikel/!461436 [9] Régis Genté 2017 „Die große Mauer von Tadschikistan“ Le Monde diplomatique deutsche Ausgabe https://monde-diplomatique.de/artikel/!5379125 [10] Marcela Palomino-Schalscha et al. 2016 „Contested Water, contested development: unpacking the hydro-social cycle of the Nuble River, Chile; S.889, 897; Third World Quarterly Vol. 37, No. 5, S. 883-901; http://dx.doi.org/10.1080/01436597.2015.1109436  [11] Luke Gibson et al. 2017 Trends in Ecology & Evolution, December 2017, Vol. 32, No. 12; Elsevier Ltd. https://doi.org/10.1016/j.tree.2017.09.007 [12] Rockström et al. 2009 „Planetary Boundaries: Exploring the Safe Operating Space for Humanity“, Ecology and Society 14(2): 32 http://www. ecologyandsociety.org/vol14/iss2/art32/ [13] Skalak et al. 2013 „Large dams and alluvial rivers in the Anthropocene: The impacts of the Garrison and Oahe Dams on the Upper Missouri River“ Anthropocene 2 (2013) 51-64 [14] Hummel et al. 2011 „Social-Ecological Analysis of Climate Induced Changes in Biodiversity – Outline of a Research Concept.“ BiKF Knowledge Flow Paper Nr. 11, Februar 2011 http://www.bik-f.de/files/publications/kfp_nr-11_neu__71c3b9.pdf [15] Giovanni Frigo 2017 „Energy ethics, homogenization, and hegemony: A reflection on the traditional energy paradigm“ Energy Research & Social Science 30 (2017) 7–17, http://dx.doi.org/10.1016/j.erss.2017.06.030 [16] John Bellamy 2018 „Der Öko-Marx“ Le Monde diplomatique deutsche Ausgabe, Juni 2018 [17] Christophe Bonneuil 2015 „Die Erde im Kapitalozän“ Le Monde diplomatique deutsche Ausgabe, November 2015 [18] Siehe Fußnote 16 [19] Carolina Caycedo 2015 „ESTO NO ES AGUA / THIS IS NOT WATER“,Film Installation [20] Hartmut Böhme 2017 „Aussichten der Natur“, Matthes & Seitz Berlin, S. 12-16 [21] nach Lukrez Siehe Fußnote 20 [22] Hartmut Böhme 2017 „Aussichten der Natur“, Matthes & Seitz Berlin, S. 12-16, 70 [23] WBGU 2011 „Welt im Wandel Gesellschaftsvertrag für eine Große Transformation“ Wissenschaftlicher Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen https://www.wbgu.de/fileadmin/user_upload/wbgu.de/templates/dateien/veroeffentlichungen/hauptgutachten/jg2011/wbgu_jg2011.pdf  
Soft Rains – 

Die multiple Krise
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Ulrich Brand

Der 2009 erschienene Text des Politikwissenschaftlers Ulrich Brand untersucht den Ursprung, die Dynamik und den Zusammenhang gegenwärtiger Krisenphänomene.
Soft Rains – 

Spekulative Biologie
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Dr. Pinar Yoldas

In ihrem Vortrag erläutert die Künstlerin und Wissenschaftlerin Pinar Yoldas ihr Konzept der "Spekulativen Biologie"
Soft Rains – 

BE DAMED - CAROLINA CAYCEDO

In her practice between art and activism, Carolina Caycedo developed a corpus of works, that questioned the production and distribution of hydroelectricity, and the colonization of nature. In 2018 her work Esto no es agua, part of her research on the social and environmental effects of dams, was part of the exhibition "There Will Come Soft Rains" at basis e.V. in Frankfurt am Main.
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Der Untergang als Experimentalraum. Zukunftsvisionen vom Ende des Menschen
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Eva Horn

Der Text der Kulturwissenschaftlerin Eva Horn untersucht das Auftreten von Endzeitszenarien in unserer Gegenwart
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Hat die Zukunft eine Zukunft? Über die Rückeroberung eines Imaginationsraums

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Stephanie Metzger

In ihrem Beitrag folgt Stephanie Metzger dem Potenzial der Zukunft als einem kreativen Vorstellungsraum