In ihrem Beitrag folgt Stephanie Metzger dem Potenzial der Zukunft als einem kreativen Vorstellungsraum
Wer von der Zukunft redet, verliert sie. Könnte man sagen. Und gleich wieder schweigen. Denn wer von der Zukunft redet, nimmt ihr die Offenheit, die ihr eigene Ungreifbarkeit, diese ihr nicht auszutreibende Widerspenstigkeit. Mit der sie sich genau dann wieder entzieht, wenn man gerade dachte, einen Zipfel von ihr erwischt zu haben. Ein weiches, kuschliges Ende der Zukunftsdecke, das man so gerne in die Gegenwart zöge, um sich einzuhüllen in eine Art von Gewissheit. Um sich warm und geborgen von der kindlichen Angst zu verabschieden vor dem, was im kalten Dunkel unerwartet auf einen wartet. Um – doch wieder ganz Kind – diese Dunkelheit auszuleuchten mit einem Zukunftswissen, das einen Wesenszug der Zukunft so unversehens ignoriert. Überhaupt mit einer Zukunftsgewissheit, von der in diesen Zeiten gar nicht mehr so selbstverständlich auszugehen ist. Weil doch gar nicht klar ist, ob die Menschheit, wenn sie so weiter macht, wie sie es heute macht, es morgen überhaupt noch macht.
Weshalb man eben doch von der Zukunft reden muss. Denn wer von der Zukunft noch redet, gibt sie nicht verloren. Könnte man ja auch sagen. Muss man dann wohl sagen. Oder muss es gleich ganz anders sagen, so in der Art: Wer von der Zukunft redet, gewinnt sie. Zumindest ein Bild und eine Vorstellung von ihr. Wobei durchaus die Frage gestellt sein darf, ob die Rede von der Zukunft tatsächlich der Rede von einem Gewinnspiel ähneln muss. Gerade wenn die Zukunft auf dem Spiel steht. Kann man so überhaupt gewinnen?
Und doch: Vielleicht ist die Zukunft gerade und vor allem im Spiel zu haben. Ein spielerisch erzeugter Zukunftsraum mit Eigenleben. Ein mehr oder weniger abgestecktes Möglichkeitsfeld, in dem agiert wird, das aber auch seine eigenen Regeln – oder auch keine – kennt. Nicht zuletzt ein eigensinniger Sprachraum. Denn in und mit der Sprache lässt sich auf jeden Fall etwas mit der Zukunft anstellen. Grammatik als Konjugation oder „Deklination des Zukünftigen“, wie Kathrin Röggla geschrieben hat. Ein Sprachspiel, ohne Anspruch auf Vollständigkeit. Spiel eben:
Sprachspiel I: Konjugation des Zukünftigen
Ist, war, ist gewesen, war gewesen
wird sein, wird gewesen sein.
sei, sei gewesen, werde sein
Wäre, würde sein
Sei!
Fängt man in dieser Weise von der Zukunft zu reden an, ist sofort zu hören: Zukunft ist nicht nur als solche nicht ganz zu haben, sie ist auch nicht alleine zu haben. Die Zukunft hängt an ihren Geschwistern Gegenwart und Vergangenheit, diese an ihr, und sie alle hängen an der Zeit. An einer bestimmten Zeit, einer, die sich wie ein fließender Strom vorwärts bewegt. Nicht im Kreis, nicht parallel zu weiteren Strömen, nicht zusammen mit Strömen, die ganz woanders oder gar nicht strömen. Nein, singulär, gleichmäßig und stetig fließt dieser Zeitstrom von gestern über das Heute in ein Morgen. Eine Bewegung, die aus der Vergangenheit der Zukunft entgegentreibt. Auf sie zutritt. Fortschritt. Der erst einmal davon ausgeht, dass mit ihm alles besser wird.
Dass dabei nicht allzu selten mehr Wunsch und Hoffnung Väter des Gedanken-Gangs sind, ist nur ein Hinweis darauf, dass auch Zukunft ein Konzept ist. Dieses hat Wurzeln und Wirkungen in der Erfahrung, lebt aber von der Vorstellung. Zukunft ist Vorstellung von Zukunft und als solche weder faktische Gegebenheit noch anthropologische Konstante. Zukunft, die mit ihren Zeit-Geschwistern Geschichte formt, hat selbst eine Geschichte und sitzt dabei zwischen den Stühlen. Ein Parasit, der sich von der Erfindung speist aber auch einiges an Tatsachen in sich hinein gefressen hat. Nomadin, die in Imaginationsräumen nistet und sich doch ihren Weg in die Wirklichkeit des Handelns bahnt. Ein Zwitter zwischen Henri Bergsonschem Wirklichen und Möglichen oder Robert Musilschem Wirklichkeitssinn und Möglichkeitssinn: „Wer ihn besitzt, sagt beispielsweise nicht: Hier ist dies oder das geschehen, wird geschehen, muß geschehen; sondern er erfindet: Hier könnte, sollte oder müßte geschehn; und wenn man ihm von irgendetwas erklärt, daß es so sei, wie es sei, dann denkt er: Nun, es könnte wahrscheinlich auch anders sein.“
Sprachspiel II: Wirklichkeits- und Möglichkeitssinn
Ist, wird, muss
Könnte, sollte, müsste
So und nur so. So oder so.
Und – Oder.
Anders.
Die Zukunft geht also mit der Zeit: „Unabhängig davon, dass alles Denken und Handeln von Menschen faktisch in der Zeit stattfindet, ist die Fähigkeit, dieses in die Zukunft und in die Vergangenheit hinein zu entwerfen, doch eine historisch spezifische Denkform“, schreibt der Historiker Lucian Hölscher und verortet den Moment der Entdeckung von Zukunft am Beginn der Neuzeit. Im Windschatten der Naturwissenschaften einmal erkannt, dass Ereignisse nicht immer schon da sind und einfach passieren, oder dass der Lauf der Dinge nicht nach vorgefertigtem Plan – wessen auch immer – verläuft, sondern es Geschichte gibt, hieß auch, dass es Zukunft gibt. Die eschatologische Erwartung eines vorbestimmten Geschehens oder die zyklische Idee des immer Gleichen, wichen der Vorstellung von Fortschritt und Entwicklung. In ihr konnte der Mensch eine aktive Rolle einnehmen. „Die Zukunft der Menschheit wurde damit gewissermaßen aus dem Jenseits ins Diesseits, aus der Ewigkeit in die Geschichte hineingezogen“, schreibt Hölscher.
Auf einen Einfluss auf den Fluss der Geschichte, also auf Zukunft, konnte man ab sofort nicht mehr nur hoffen, sondern ihn tatsächlich nehmen. Und mehr oder weniger ideologische Richtungs-Streite über ihn führen. Der Blick zurück, zu finden etwa in der Antikenbewunderung der Aufklärer und Romantiker, sucht in einer meist idealisierten Vergangenheit die Zukunft. - Um so die Gegenwart gleich ganz zu überspringen? Anders das Vertrauen in die Entwicklung aus dem Gestern über das Heute hin zu einem Morgen, das Adam Smith an die unsichtbare Hand des Marktes koppelte, die Hegelsche Dialektik an das teleologische „Werden“ oder Marx an den Klassenkampf. Dass in der Gegenwart bereits Zukunft enthalten ist und nur der Extrapolation bedarf, vermitteln schließlich die euphorisch-phantastischen Ausgestaltungen einer technikbegeisterten Moderne. Über all diese Richtungen wurde in der Geschichte der Zukunftsvorstellungen gestritten. Über die möglichen Motoren – Reaktion, Reform, Revolution – auch.
Sprachspiel III: Relationen
Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft sind Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft.
Vergangenheit war die Zukunft der Gegenwart, die eine Vergangenheit der Zukunft ist, die Gegenwart werden wird.
Vergangenheit war Gegenwart. Gegenwart war Zukunft. Zukunft war... ja was?
Mit der „Entdeckung der Zukunft“ betritt die Zukunft also eine Bühne, besser gesagt viele Bühnen: die Bühne der Geschichtsphilosophie genauso, wie die der Politik, der Wirtschaft oder der Kunst. Auf ihnen erscheint sie in bildstarken Kostümen und übt Posen der Macht. Die Aufklärer etwa hüllen sie in die Toga des freien Bürgers eines imaginierten goldenen Zeitalters, der Marxismus in den zerrissenen Mantel eines proletarischen Kollektivsubjekts. Die Zukunftsromane Anfang des 20. Jahrhunderts katapultieren sie in die Flugmaschinen von Zeitreisenden und gegenwärtige Analysten kleiden sie in mit Simulationen des Finanzmarkts gefütterte Anzüge der Börsenspekulanten. Je nachdem wie viel Öffentlichkeit die Zukunft dabei erfährt, wirkt ihr performatives Können – und das ihrer Inszenatoren – über die einzelne Bühne hinaus. In je mehr Köpfe und Herzen sich die Zukunfts-Vorstellung hinein spielt, in desto mehr Hände wandert sie. Anders gesagt: Zukunftsvorstellungen erzeugen gesellschaftliche Erwartungen, fokussieren Möglichkeiten und beeinflussen das Handeln. Damit erzeugen sie Wirklichkeit. Selbst wenn diese dann doch an der vorgestellten vorbei geht.
Lange wartete z.B. der Frühsozialist auf die kooperativen, emanzipativen und kollektiven Annehmlichkeiten seines Zukunftsstaates und fand sich dann vor allem in den Unannehmlichkeiten eines real-existierenden Sozialismus wieder. Der Reichtum der Nationen, wie ihn Adam Smith als Zukunftsperspektive eines freien Marktes ausmalte, mag für einen Teil heutiger Nationen errungen sein, für einen anderen aber gerade nicht. Die emanzipativen Hoffnungen, wie sie mit der Errungenschaft eines world wide web verbunden wurden, sind jetzt vor allem solche von globalen Internetunternehmen, Hassrednern und vielleicht auch von den die User formatierenden Algorithmen. Zukunft und ihre Vorstellungen erschaffen Wirklichkeit, verfehlen diese aber auch.
Ist das mit der Zukunft an sich also nur eine utopische Idee? Ohne Ort, kein Ort, nirgends? Oder genauer: die zum Besseren gestaltbare Zukunft als Utopie, der man lieber gleich den Rücken zuwenden sollte, wenn man wirklich nach vorne schauen möchte? Die Utopie hätte man dann vermutlich tatsächlich hinter sich gelassen, die Zukunft vielleicht aber auch. Denn landete man nicht auf der zweiten Seite derselben Medaille, auf „der anderen Seite“ gewissermaßen, die Alfred Kubin in seinem ersten und einzigen Roman buchstäblich ausgemalt hat, auf der Seite der Dystopie? Und die Dystopie nimmt einem die Zukunft ja völlig, provoziert in den negativen Ausgestaltungen des Kommenden vor allem die Vermeidung von Zukunft. Statt Schöpfung, Gestaltung oder Entwurf lieber Vernichtung der Zukunft. Wobei die Vermeidungsstrategie immerhin eine Strategie ist. Wenn man sich nicht doch dafür entscheidet, den Kopf in den Sand zu stecken und den Weltuntergang, die Klimakatastrophe oder die nächste ökonomische Krise einfach ab bzw. zu erwarten.
Sprachspiel IV: Zeitkomplex
Gestern, heute, morgen:
Nie und Nimmer.
Hier und immer:
Jetzt!
In heutigen Zeitdiagnosen erscheint jedenfalls die Dystopie nur als eine Facette eines alle und alles lähmenden Verlusts der Zukunft. Der Streit, den ältere Generationen noch um die Zukunft, um Entwürfe, Richtungen und Methoden ausfochten, sei heute erschöpft, erstarrt in Zukunftsverdrossenheit, Zukunftsungewissheit, Zukunftsangst. Lahm gelegt durch die Gefangenschaft im Gegenwärtigen. Dieser Verlust der Zukunft ist auch ein Verlust von Wirklichkeit und des Singulars von Zukunft. Und er ist ein Verlust politischer Gestaltungskraft, der sich paradoxerweise auf den Gewinn eines immer genauer berechneten Zukunftswissens gründet. Diese macht Zukunft zur planbaren, strategisch nutzbaren und „kolonialisierbaren“ Größe, schafft sie also ab. Stattdessen: Ineinander-Fallen von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in einen dichten, undurchdringlichen „Zeitkomplex“ und „absolute Gegenwart“.
Trotzdem hat auch dieser Zeitkomplex historische Wurzeln, so die Kulturwissenschaftler. Der Zusammenbruch des Sozialismus 1989 leistete dem Phänomen der Zukunftsverdrossenheit ebenso Vorschub, wie das in seinem Windschatten von Francis Fukuyama postulierte „Ende der Geschichte“. War damit Geschichte selbst und der an sie geknüpfte Fortschrittsgedanke aufgegeben, so geriet mit der postmodernen Philosophie auch das Verständnis davon ins Wanken, was Wirklichkeit sei. Wer nicht mehr davon ausgehen konnte, dass es die Wirklichkeit gibt, sondern nur Interpretationen von ihr, war sich über die Gestaltung dieser Wirklichkeit, noch dazu mit Zukunftsperspektive, nicht mehr so sicher. Der wissenschaftliche Blick über den westlichen Tellerrand hinaus, etwa im Postkolonialismus, konfrontierte zudem mit anderen Zeitbegriffen und -verläufen. Auch in den Geschichtswissenschaften wurden das Verständnis des eigenen Gegenstands und die methodische Praxis komplexer. Kurz: die Dinge wurden nicht einfacher, sondern komplizierter, nicht realer, sondern irrealer. Der Gewinn an Möglichkeiten, Realitätsebenen und Erzählungen zeitigte den Verlust an Klarheit und Orientierung, eben auch von Zukunft und der einen großen Erzählung von ihr.
Eine Steigerung der Komplexität auch vorangetrieben von Globalisierung und Digitalisierung, denen sich das Feld der Politik gegenüber wehrlos zeigte bzw. gar nicht zur Wehr setzen wollte. Das Politische Motto von der Alternativlosigkeit schuf das „anders“ des Möglichkeitssinns ab und akzeptierte die Hegemonie der Wirtschaft. Der Rückzug des Staates zugunsten marktwirtschaftlicher Flexibilisierung und Mobilität sollte allgemeinen Wohlstand und Wachstum sichern, ließ die sozialen Beziehungen und das Grundgefühl des Einzelnen aber nicht unbeschadet. Inzwischen haben sich die Kategorien von Flexibilisierung und Mobilisierung zu Ansprüchen an das Subjekt ausgeformt. Als „unternehmerisches Selbst“ verändert, bewertet und optimiert es sich permanent, um im verdichteten Strom der Informationen und im Kampf mit der Konkurrenz auf dem Markt der Möglichkeiten bestehen zu können.
Während dieses Leben im Jetzt eher schon dem Versuch eines Überlebens im Jetzt ähnelt, bei dem jeglicher Gedanke an Zukunft zu viel Kraft kostet, haben die westlichen Gesellschaften im Zuge all dieser Entwicklungen aber auch immer genaueres Zukunftswissen gewonnen. Ein Zweig der sogenannten Zukunftsforschung holt immer präziser und genauer durch Daten, Computermodelle und Szenarien Zukunft in die Gegenwart und liefert – mehr oder weniger unfreiwillig - Material für diverse Interessensgruppen. Ökonomische Modelle mit ihren Prognosen über Marktentwicklungen sind dabei genauso schuld am Verlust einer offenen Zukunft wie z.B. algorithmengestützte Präventions- oder Empfehlungsprogramme, die die Ängste und Wünsche des Subjekts kennen, bevor es sie überhaupt ahnt. Wenn jemand etwas über diese Zukunft sicher weiß, dann die Maschinen.
Zukunft hat sich in der „absoluten Gegenwart“ als Begriff also nicht erledigt. Es sind aber gewissermaßen Pseudo-Zukünfte, die das Konzept und das Reden über die Zukunft prägen. Man könnte sagen, mit ihnen stehen der Vielschichtigkeit und Ambivalenz von Zukunft bzw. der Vorstellungen von ihr, eindimensionale Verkürzungen gegenüber. Verkürzungen die vergessen, dass Zukunft zwar Wegmarken abstecken hilft, aber eben auch offen bleiben könnte. Dass Vergangenheit und Gegenwart ihre Geschwister sind, mit denen man sie ein dynamisches Bündnis eingehen lassen sollte. Dass sich in ihrem fiktiven Status Wirklichkeit und Erfindung überlagern, Formung und Verflüchtigung. Dass der zukunftsfähige Mensch ein Mensch im Werden im Ernst Blochschen Sinne ist. Das Panorama dieser Verkürzungen ist vielgestaltig.
Sprachspiel V: Verlust
Auf der Suche nach der verlorenen Zeit
Auf der Suche nach der verlorenen Wirklichkeit
Auf der Suche nach der verlorenen Einfachheit
Auf der Suche nach der verlorenen Zukunft
Da ist die Zukunftsrhetorik der Politik. Ob auf Wahlplakaten, in Parteiprogrammen oder in Wahlkampfreden, der Begriff der Zukunft fehlt im Sprachgebrauch der aktuellen Politlandschaft nirgends. Nicht zuletzt weil auch heute Politiker noch wissen, was Markus Steinweg auf den Punkt bringt: „Wer ohne Zukunft ist, ist ohne Fantasie – und somit politisch neutralisiert.“ Fantasiefreude ist den parteipolitischen Plädoyers für Mut, Gestaltung und Perspektive allerdings wenig abzulesen, weshalb die Diagnose einer politischen Neutralisierung eher die gegenwärtige Situation trifft. Das fortgesetzte Sprechen von der Alternativlosigkeit in der Tradition des 80er-Jahre und ein Festhalten am quantitativen Wachstum bestärken den Status quo mehr, als dass sie eine angepeilte gesellschaftliche Dynamik in Gang setzen und sozial-gerechte Zukunft für alle schaffen würden. Dass es daran überhaupt gar kein Interesse gäbe, sondern die von den Regierungen betriebenen „neoliberalen“ Reformen vielmehr die Zustände bewusst herstellen, die im „Jetzt“ gefangen halten, ist die rigorose Einschätzung von Pierre Bourdieu, die der Philosoph Michael Hirsch wiederum für seine Zeitdiagnose zitiert. „Dass uns die Verhältnisse zunehmend als unsicher, ungestaltbar und unbeherrschbar erscheinen, die Zukunft also bestenfalls als Fortsetzung und Wiederholung der Gegenwart – das ist nicht Ergebnis einer schicksalhaften Entwicklung, sondern Resultat konkreter politischer Entscheidungen im Rahmen eines restaurativen Gesellschaftsprojektes: ‚Die Präkarität, [schreibt Bourdieu], ist Teil einer neuartigen Herrschaftsform, die auf der Errichtung einer zum allgemeinen Dauerzustand gewordenen Unsicherheit fußt und das Ziel hat, die Arbeitnehmer zur Unterwerfung, zur Hinnahme ihrer Ausbeutung zu zwingen.’“ So sehr in dieser Perspektive die Politik die aktuellen Umstände als restaurative und eben nicht progressive herstellt, so sehr wird ihr darin überhaupt das Potential zu einer aktiven Politik zugetraut. Darin könnte tatsächliche Zukunftsgestaltung liegen.
Im Panorama der Pseudo-Zukünfte findet sich auch die verkaufte Zukunft der Finanzwirtschaft: Berechnungen und Erwartungen über die zukünftigen Werte von Unternehmen oder Aktien bestimmen ihren Wert in der Gegenwart. Das ist die Umkehrung der Perspektive des klassischen Unternehmers, der mit dem kalkulierte, was er in der Vergangenheit an Vermögen angehäuft hat. Sie unterscheidet sich auch vom traditionellen Bankengeschäft, in dem die aktuelle Liquidität der Geschäftspartner, also die Gegenwart, den Ausgangspunkt des Geschäfts darstellt. In der Finanzwirtschaft dagegen wird die Zukunft zum Bezugspunkt des Geschäfts. Sie wird auch hier mehr oder weniger „erfunden“, aber nur, um in der Gegenwart gewinnbringend verkauft zu werden. Eine Operation, die doch immer in der Gefahr lebt, am blinden Fleck der Spekulation zu scheitern. Oder sollte man sagen, am Eigensinn der Zukunft? Elena Esposito schreibt: „Finanzmodelle können alle möglichen zukünftigen Kurse auf den Märkten vorausberechnen, nur nicht die Zukunft einer modellgeleiteten Finanzwirtschaft – die einzige Zukunft die später eintreten wird.“
Eine Facette dieses Ausverkaufs der Zukunft ist der verschuldete Mensch. Als solcher entwirft dieser sich immer schon als ökonomisches Subjekt. Er genießt in der Gegenwart bereits das, was er in der Zukunft zu erwirtschaften hat. Andere Optionen der Entwicklung gibt er dadurch preis, denn, so formuliert Kathrin Röggla: „Schulden neutralisieren die Zeit als Ort der Kreation neuer Möglichkeiten“. Und der Philosoph Mauricio Lazzarato beschreibt in seinem Buch „Fabriken des verschuldeten Menschen“ das Gefühl des Schuldners, „in einer Gesellschaft ohne Zeit zu leben, ohne Mögliches, ohne bevorstehenden Bruch.“
Der verschuldete oder besser der schuldige Mensch ist auch die Figur, die im gedanklichen Filter des „Futur II“ als Korrektiv eines Handelns in der Gegenwart wirken soll: Was werden wir nicht getan haben, um die Welt zu verbessern? Was werden wir getan haben, um die Welt zu verbessern? Wer werden wir gewesen sein? Und wer nicht? Eines ganz sicher: Unschuldige. Sich die Frage zu stellen, wie die kommende Generation auf eine aktuelle Gesellschaft zurück blicken wird, bildet in dieser Logik den Motor für Verantwortungsbewusstsein, nachhaltiges Handeln, Engagement. Diese Denkfigur holt die kommenden Lebenden als Mahner genauso in die Gegenwart, wie die kommenden Toten. Gerade angesichts der tendenziell katastrophischen Erwartungen unserer Zeit. Gespensterkollektive als Gespensterkorrektive, durch die sich zur Schuld von gestern auch schon die Schuld von morgen gesellt, wie es ebenfalls Kathrin Röggla überspitzt hat. Ein Schuldenberg, dem in Modi der Mahnung, Entsagung oder Askese zu begegnen versucht wird, der in seiner Schwere einen lustvollen Zukunftshorizont möglicherweise auch mehr abschließt als öffnet.
Sprachspiel VI: Code
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12...
Eins Null Ein Null Eins Null Eins
13 14 15 16 ....
Eins Null Ein Null Eins Null Eins
....17 18 19 20
Null Eins Null Ein Null Eins Null Eins
Weitere Mosaikstücke im Panorama der gegenwärtigen Pseudo-Zukünfte sind die Zukunftsträume des Silicon Valley. Hier werden Softwareentwickler, Programmierer und Designer zu Propheten künftig-künstlicher Paradiese. In diesen Voraussagen ist alles besser, innovativer und perfekter – außer der Mensch: Leben im smart home oder in der smart city, arbeiten mit Robotern oder gar nicht mehr, weiterentwickelte Denk- und Gefühlshorizonte der künstlichen Intelligenz. Der Mensch mit all seiner Unkalkulierbarkeit, Faulheit, Unregelmäßigkeit wird jenseits seiner Rolle als Datenlieferant und Kunde eher ungern mit einkalkuliert. Gesellschaft jenseits ihrer technischen Möglichkeiten auch nicht. Weil technologische Innovation und gesellschaftlicher Fortschritt gleich gesetzt werden und dadurch gerne sozial hohl bleiben. Dies übrigens mit Tradition, handelt es sich im aktuellen Technofuturismus doch nicht selten um einen Retrofuturismus, der sich aus Ideen der 1920er Jahre speist, worauf u.a. der Technikhistoriker David Edgerton hingewiesen hat. Wo all diese Visionen ihre enthusiastischen Fans haben, kippen sie bei Skeptikern in apokalyptische Phantasien. Und die Apokalypse ist das Ende. Auch von Zukunft.
Eine andere Variante der verkürzten Zukünfte der Gegenwart entfaltet als Kraft des Neuen im Ereignis. Den Bruch mit einer absoluten Gegenwart, durch den Veränderung und das Neue anvisiert werden könnten, suchen Philosophen, Aktivisten und Künstler im Begriff des Ereignisses. Nicht ohne damit zu ringen, wie einem Ereignis dann – in den Worten Alain Badious – „die Treue gehalten werden kann“. Wie also aus Ereignis Zukunft wird. Badious „Ereignis“ schlägt Breschen in die Ordnung des Bestehenden, reißt Löcher ins Reale, um dem, was als Wahrheit schon vor diesem Einbruch da war, in einer neuen Ordnung zum Recht zu verhelfen. Nur mit diesem ethisch-integeren Bezugspunkt hat das Ereignis bei Badiou seine Berechtigung. Als Revolution oder Aktivismus. Terrorismus und Selbstmordattentate fallen bei ihm aus dem Raster. Eine Trennlinie, die unscharf bleiben muss - schlägt doch auch der Selbstmordattentäter Breschen in die Gegenwart und versucht die Manifestation einer, eben seiner Wahrheit. Ein Messias, der das Neue herbeibombt und eine heilige Ordnung restituiert, nicht von dieser Welt. Um eine solche soziale Ordnung, die auch Kontinuität sucht, müsste es aber eigentlich gehen, wenn man von Zukunft reden will.
Auch als „Störung“ erkundet die zeitgenössische Kunst das Ereignis. Ästhetische Erfahrung im Moment und das Spiel mit Unmittelbarkeit würden dabei aber nur – so die Einschätzung der Kritiker – einer systematischen Analyse und aufklärerischen Anstrengung vorgezogen: „Die zeitgenössische Kunst ist sowohl Symptom als auch Surrogat dieser Zukunftslosigkeit, mit ihrer ständigen Zelebrierung der Erfahrung“, sagt etwa der Philosoph Armen Avanessian. Ein virtuoses und genussvolles Festsitzen in der Präsenz, das nicht einmal mehr versucht, die Dinge zu durchschauen, den Schleier von behaupteten Zwängen zu heben oder ein Bewusstsein für Zusammenhänge zu erzeugen. Aber selbst Heiner Müller, ein Spieler mit literarischen Brüchen und Textbomben, formulierte: „In der Gegenwart leben ist bewusstlos leben.“ Dementsprechend stellt Avanessian dem Präsentismus der aktuellen Kunst eine spekulative Perspektive als zeitgemäß gegenüber, weil diese – siehe etwa verkaufte Zukunft – längst die Gegenwart eingesogen hat und deshalb sozial und ästhetisch vereinnahmt gehört. Dagegen hoffen Vertreter und Diskutanten eines neuen künstlerischen Realismus, dass „realistische“ Darstellung und das Vertrauen in die Erkenntnisbewegung eines dialektischen Denkens auch heute hilft, Welt zu begreifen und sich ihre Veränderbarkeit konkret vorzustellen. Ja sogar, wie der Theatermacher Milo Rau es ausdrückt „wirklich einzugreifen in das Getriebe der Welt, ins Getriebe der Geschichte. Trotz der ganzen beschissenen Zweideutigkeit jeder Position.“
Sprachspiel VII: Aleatorik
Ist, war, ist gewesen, war gewesen
wird sein, wird gewesen sein.
sei, sei gewesen, werde sein
Wäre, würde sein
Sei!
Ein Eingreifen in die Welt der absoluten Gegenwart beginnt schon mit der Rede über sie. Und auch das Sprechen über Zukunft, und zwar über eine andere als die des gegenwärtigen Panoramas, könnte ein Teil davon sein. Davon zu reden, dass es Zukunft nicht gibt oder nur verkürzt gibt, schafft sie nämlich ebenso wirkmächtig ab, wie die Rede, dass sie in ihrem Changieren zwischen Realität und Imagination, zwischen Möglichkeit und Wirklichkeit, zurückerobert werden kann, sie erzeugt. Selbst wenn sie hier erst einmal nur im Konjunktiv erfolgt, dem aber die Autorin Kathrin Röggla besondere Ausdruckskraft des Möglichen zuschreibt: „Er ist eine Spaltmaschine. Zwischen dem hier und jetzt, dem eben noch und dem jetzt gerade, dem hier und dort, dem Sprecher und dem Sprechenden. Er macht eine Zweizeitigkeit und gleichzeitig eine Interpersonalität auf, von deren Brauchbarkeit ich noch stark ausgehe. So kann man Handlungsräume zeigen und gleichzeitig verschwinden lassen. Die Frage, wer noch handelt, erhält im Konjunktiv ein neues Licht.“
In den neuen Zukünften wäre Zukunft weiterhin an einen Begriff des Fortschritts gekoppelt. Letzterer wäre wiederum nicht gekoppelt an eine sozial entleerte Idee von wirtschaftlich-quantitativem Wachstum oder technischer Innovation. Fortschritt beinhaltete ein soziales Programm, bezeichnete kulturelles Wachstum: Lebensqualität, Gemeinschaft, Entfaltungsmöglichkeiten, Freiheit. Und er wäre Resultat politischen Willens und politischer Entscheidungen. Dazu müsste er gar nicht in die Zukunft gedacht werden. Denn ob als Variante, die sich mit dem kapitalistischen Denken verschwistert hat oder als komplexere, die soziale Facette einschließende Variante: „Fortschritt ist streng genommen eigentlich immer nur als eine Kategorie des politischen Eingriffs in ein soziales Geschehen, in soziale Verhältnisse, soziale Rechte und soziale Beziehungen zu begreifen“, schreibt Michael Hirsch und spricht damit der Politik Gestaltungswillen und Gestaltungskraft zu. Und damit eben auch einer, die sich nicht kapitalistischen Mechanismen unterordnet.
In diesen neuen Zukünften würde eine Diskussion über einen neuen Humanismus geführt werden. Vielleicht schlösse die Diskussion um Transhumanismus mit ein, den Menschen – so wie er dann wäre und „werden“ würde. Entsprechend schreibt schon jetzt der Internetkritiker Andrew Keen in seinem aktuellen Buch „How to fix the future“: „Die Zukunft ist defekt, sie hat ein Loch. Wir haben unsere Position in ihr vergessen, die Stellung des Menschen in der Netzwerk-Welt des 21. Jahrhunderts. Das ist das Loch. Und die Zukunft, unsere Zukunft, wird nicht funktionieren, solange wir dieses Loch nicht gestopft haben. Der erste Schritt ist, weder in die Falle der Technik-Idealisierung noch in die der Technik-Dämonisierung zu gehen. Der zweite Schritt ist schwieriger. Wir müssen uns daran erinnern, wer wir sind.“ In dieser Erinnerung von morgen an das, was der Mensch ist, wäre er nicht Einzel-Kämpfer, sondern würde annehmen, dass er von anderen abhängt, Schwächen hat und verwundbar ist. Was auch gar kein Problem wäre. Dieser Mensch würde sich auch nicht blockieren bei der Rede über die „Versöhnung der Menschheit“. Denn diese, seine Träume und Vorstellungskompetenz wären Stoff von Utopien, denen die Ernst Blochsche Chance auf Konkretion wieder inne wohnte. Von Konkreten Utopien als „Korrelat der noch nicht verwirklichten objektiv-realen Möglichkeiten in der Welt.“
Als Medium solcher konkreten Utopien wäre der Mensch wieder hoffender, phantasierender und vor allem: denkender. Denn noch vor jeder „direkten Aktion“ reißt auch schon das Denken Löcher in das Bestehende. Um dann weiterzudenken, nachzudenken, darüberhinaus zu denken. Von Seiten der Kunst wären es Fiktionen des Zukünftigen, die dieses Denken anstifteten. Spielanordnungen, aber auch Weiterentwicklungen der aktuellen performativen Anordnungen. In ihnen wäre der Mut zur Darstellung und Konkretion verbunden mit dem Modus der Möglichkeit. Ein Spiel zwischen Formgebung und Entzug. Ein Changieren zwischen Realisierung und Irrealisierung, das Unschärfen und Unkalkulierbarkeit zulässt, aber trotzdem in der Welt, real stattfindet. Wie in einem Theater, das zwar immer dasselbe Stück gibt, aber immer andere Spieler hat und Zuschauer gar nicht mehr kennt. Eine solche künstlerische Gegenwart zwänge „der Zukunft eine Form auf, die sie nicht kontrollieren und vorausberechnen kann. Sie kann nur die Überraschung vorausberechnen – eine Rechnung, die von jeder neuen unvorausberechenbaren Gegenwart bestätigt wird.“ So schreibt Elena Esposito.
Sprachspiel VIII: Zukunftsmusik
Ist, fünf, auf der Suche, immer, zwei
Gegenwart, wäre, Null, nie
Die Zukunft war Zukunft
Die Vergangenheit, sei, jetzt
So sehr solche Fiktionen Zukünfte wieder öffneten, so sehr ähnelten sie im Feld des Politischen Landkarten, die Richtung und Navigation der Gesellschaft anzeigen würden, wie der Akzelerationist Nick Land schreibt: „Ein solch navigatorischer Begriff einer Zukunft ist notwendig, wenn wir über die Grenzen der heutigen politischen Linken hinausgehen wollen.“ Insgesamt ein Zusammenspiel von Raum und Zeit im Format der Landkarte, die viel früher und noch weit vor jeder linken Politik Thomas Morus seiner Schrift Utopia tatsächlich voranstellte. Dementsprechend konnte Oscar Wilde 1891 schreiben: „Eine Weltkarte, in der das Land Utopia nicht verzeichnet ist, verdient keinen Blick, denn sie lässt die eine Küste aus, wo die Menschheit ewig landen wird.“ Die Diskussion um die einzutragenden Wegmarken auf dieser Landkarte drehten sich um Ideen wie: Grundeinkommen, Postwachstum, Befreiung vom Ethos der Lohnarbeit. Sie würden geführt von einer Gesellschaft, die sich als politischer Akteur verstünde. Die solidarisch dächte und in Kategorien der Gemeinschaft.
Es ist bezeichnend, dass all diese Ideen, wie sie hier mehr assoziativ als systematisch im Möglichkeitsraum des Konjunktivs angerissen wurden, sich auf Stimmen von heute und von gestern berufen. Indem wir sie für eine Neukartierung von Utopia, als Bausteine neuer, zukunftszugewandter Erzählungen hören und nutzen, können wir uns Zukunft zurückerobern.
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Eine Sendung von "Essay und Diskurs" im Deutschlandfunk vom 08.04.2018. Der Audiobeitrag ist noch bis zum 08.10.2018 im Archiv des Deutschlandfunk abrufbar.
Die Abbildung zeigt ein "Futuro House" in Royse City, Texas. Die an ein UFO erinnernden Häuser wurden ab 1968 von dem finnischen Architekten Matti Suuronen entwickelt.
© Abbildung: Molly Block, Royse City
Beitrag editiert von Stefan Vicedom