There will come soft rains

Der Untergang als Experimentalraum. Zukunftsvisionen vom Ende des Menschen
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Eva Horn

Der Text der Kulturwissenschaftlerin Eva Horn untersucht das Auftreten von Endzeitszenarien in unserer Gegenwart

 

"Look around you, at today’s world. Your house, your city. The surrounding land, the pavement underneath, and the soil hidden below that. Leave it all in place, but extract the human beings. Wipe us out, and see what’s left. How would the rest of nature respond if it were suddenly relieved of the relentless pressures we heap on it and our fellow organisms?" *1

   Die Vorstellung einer vom Menschen "entlasteten" Erde, die der Bestseller-Autor Alan Weisman in seinem Sachbuch "The World Without Us" vorträgt, hat in jüngster Zeit eine symptomatische Konjunktur. Weisman, dessen Buch die erfolgreiche Fernsehserie "Life After People" inspiriert hat, entwirft im Gedankenexperiment eine zukünftige Verfallsgeschichte der Städte und Architekturen, die uns umgeben, unter der fiktiven Voraussetzung, dass plötzlich alle Menschen vom Erdball verschwunden sind. Weisman erzählt, wie Häuser und prominente Bauten zerfallen, wenn sie ohne menschliche Wartung der Natur ausgesetzt sind: Beton wird bröckeln und Brücken werden einstürzen. Weisman präsentiert den Blick auf eine Welt, die vom "Druck" der Menschheit endlich befreit wäre; die Natur holt sich ihren Raum zurück.

   Die Frage ist, warum wir uns das ansehen, warum wir das wissen möchten. Warum schwelgen nicht nur Sachbücher – von Jared Diamond und Harald Welzer bis Ulrich Beck und Peter Sloterdijk – in finsteren Prognosen eines "Endes der Welt, wie wir sie kannten" (so ein immer wiederkehrender Titel)? Auch neuere Kinofilme berauschen sich an Katastrophen: 2009 prophezeite Roland Emmerich in seinem Blockbuster "2012", dass dieses Jahr die Welt an Supervulkanismus und driftenden Kontinenten zugrunde gehen wird. Vergangenes Jahr zelebrierte Lars von Trier in "Melancholia", dass der Untergang der Welt durchaus auch eine Wunscherfüllung sein kann – der Wunsch einer melancholischen Disposition, die in allem Lebenden nur das Üble und Hässliche erkennen kann und nichts mehr zu verlieren hat. Und dieses Jahr erschienen in den USA Filme, die die Apokalypse plötzlich nicht mehr als kollektives Desaster, sondern als kleines, intimes Dramolett inszenieren: Lorene Scafarias "Seeking a Friend for the End of the World" oder Abel Ferraras "4:44 Last Day on Earth". Der Weltuntergang wird zum Einbruch der Endlichkeit in den Alltag, ein Einbruch, der in "Seeking a Friend" immerhin noch eine gewisse Befreiungswirkung hat; "4:44" dagegen zeigt nur noch, dass auch das Ende der Welt nichts an unseren Routinen ändern würde (und ist entsprechend öde). Aber symptomatisch ist diese Weltendekonjunktur in jedem Fall: Wir träumen, so scheint es, von der eigenen Auslöschung, von der Möglichkeit, irgendwann wieder spurlos verschwunden zu sein. Wir imaginieren uns selbst als letzte Menschen.
 

Zukunft als Experimentalraum

   Seit der Romantik träumt die Moderne den Traum vom Ende des Menschen als ultimativem Untergang. Die Katastrophe am Ende aller Zeiten wird dabei zu einem Experimentalraum, der den Menschen noch einmal – ein letztes Mal – auf Herz und Nieren prüft. Dabei war die Zukunft durchaus nicht immer ein Raum für Experimente, sondern vielmehr Ort eines erwarteten Schicksals, das Weltende ein finales Weltgericht. Erst mit der Verabschiedung der Heilsgeschichte und damit einer Zukunft, die immer schon geschrieben steht und unaufhaltsam auf uns zukommt, blickt die Moderne in das unheimliche Dunkel einer zugleich offenen und unabsehbaren Zukunft. Was sie angesichts dieses Dunkels entwickelt hat, sind methodische Verfahren der Antizipation des Kommenden – von der Wahrscheinlichkeitsrechnung und Statistik bis zum Szenario und zur Simulation. Diese prognostischen Wissensformen entwerfen mögliche Verläufe, denkbare, aber durchaus nicht gewisse Ereignisse oder Entwicklungen: Was könnte sein? Zukünftigkeit, so kann man sagen, ist ein Modus des Wissens im Konditionalis. Neben den wissenschaftlichen Prognosen ist eine Möglichkeit, diese Zukünftigkeit zu denken, Fiktion: Verfahren, die die Zukunft ausmalen, erzählen, erfinden, um sie zum Reflexionsraum sehr gegenwärtiger Probleme zu machen, etwa in Form von Szenarien, die versuchen, Geschichten von künftigen Entwicklungsverläufen zu erzählen; in Form von Gedankenexperimenten, die eine Hypothese, die sich nicht empirisch ausprobieren lässt, im theoretischen Durchdenken ausleuchten; oder eben in Form von literarischen oder filmischen Imaginationen, die eine zukünftige Situation detailliert entwerfen und ihre Protagonisten sprechen lassen können.


   Der Weltuntergang, das Ende aller Zeiten, ist eine Möglichkeit, diesen Spielraum imaginativ zu nutzen. Es denkt Zukunft als Katastrophe.*2 Die letzten Menschen sind die Versuchspersonen in diesem Gedankenexperiment. Im Moment des Untergang zeigt sich, was der Mensch einmal gewesen sein wird, was vom Menschen "übrig bleibt", wie er sich als individueller Körper und Geist verändert haben wird, wie menschliche Zivilisation an ihrem Ende aussehen könnte – und vor allem: Was der Mensch eigentlich ist, wenn die vertraute und gegenwärtige Zivilisation von ihm genommen wird. Welche Entwicklungsmöglichkeiten stehen dem Menschen offen? Wie werden sein Körper und Geist sich langfristig transformieren? Welche Technologien oder kulturelle Praktiken werden das, was der Mensch ist und kann, grundlegend verändern? Wie wird sich das Soziale verändern? Wie belastbar ist menschliche Zivilisation?
 

Romantische Verdunklung

   Es ist nicht zufällig die Romantik, in der diese Form des Weltendes als Experiment am Horizont erscheint. Dabei geht es zunächst um die Abarbeitung jener Figur, die das Geschichts- und Zukunftsdenken des Abendlandes Jahrhunderte lang geprägt hatte: der Vorstellung von Weltende und Weltgericht aus der Johannesapokalypse. Diese hatte das Weltende als großes Gericht über alle Lebenden und Toten entworfen, aber auch als Aufbruch zu einem Neuen Jerusalem. In der Romantik werden zum ersten Mal künftige Weltenden imaginiert, die kein Weltgericht mehr sind, sondern bloßes Ende, Auslöschungen ohne Neuanfang. Jean Pauls "Rede des toten Christus vom Weltgebäude herab, daß kein Gott sei" (1796) lässt die Toten auferstehen, um ihnen dann zu sagen, dass kein Vater-Gott sie nun richten und erlösen wird: "Wir alle sind Waisen, ich und ihr".*3 In besonders radikaler Weise zeigt das Lord Byrons Gedicht "Darkness" (1816).*4 Byron entwirft eine Versuchsanordnung, die den Menschen einem katastrophischen Stressexperiment aussetzt: Die Sonne ist erloschen, die Welt liegt plötzlich in Kälte und Dunkel.


I had a dream, which was not all a dream.
The bright sun was extinguish’d, and the stars

Did wander darkling in the eternal space,
Rayless, and pathless, and the icy earth
Swung blind and blackening in the moonless air.


Die panische Menschheit verbrennt zunächst alles, was sie hat: Städte, Paläste, Wälder:


And they did live by watchfires – and the thrones,
The palaces of crowned kings – the huts,
The habitations of all things which dwell,
Were burnt for beacons; cities were consum’d,
And men were gather’d round their blazing homes
To look once more into each other’s face;


   Byron schildert die Panik und Verzweiflung der Menschheit mit einiger Präzision. Zunächst werden die Institutionen der sozialen Ordnung zerstört, dann die letzten Ressourcen verheizt. Byrons "Traum" nimmt den letzten Menschen nicht mehr als Geschöpf Gottes in den Blick, sondern als soziales Wesen. Die verdunkelte Erde wird zum Krisenexperiment, in dem sich zeigt, was politische Institutionen, religiöse Symbole und menschliche Bindungen wert sind – nämlich nichts. Die Menschen sammeln sich um die letzten Feuer, aber in dieser Notgemeinschaft, das sieht Byron klarer als viele heutige Katastrophenthriller, entsteht keine neue Form von Solidarität. Die Katastrophe löscht alle Leidenschaften bis auf die Angst. Das Desaster wirft den Menschen zurück auf Selbstsucht und Verzweiflung, Heulen und Zähneknirschen. Was folgt, sind blutige Kämpfe um Nahrung:


And War, which for a moment was no more,
Did glut himself again: a meal was bought
With blood, and each sate sullenly apart
Gorging himself in gloom: no love was left;


   Worauf Byrons Weltuntergangsszenario zielt, ist eine Abrechnung mit der optimistischen Anthropologie der Aufklärung. Liebe, Freundschaft, Mitleid – die großen Tugenden des 18. Jahrhunderts – fallen vom Menschen ab wie Kostüme. Was übrig bleibt, ist der Mensch als Wolf des Menschen. Schon Byron sieht die letzten Menschen als Kannibalen – ein Motiv, das in etlichen Untergangsszenarien immer wieder auftauchen wird: "The meagre by the meagre were devoured", die Verhungernden fallen über andere Verhungernde her. Byrons Verdunklung der Welt wirft ein fahles Licht auf die Natur des Menschen als moralisches und politisches Wesen, das am Ende eben doch nichts anderes gewesen sein wird als angstvoll, selbstsüchtig, unvernünftig, lieblos.
 

Zeitmaschinen und neue Rassen

   Während Byron seinen "Traum, der nicht ganz ein Traum war" noch zwischen Alptraum und Prognose ansiedelt, präsentieren die Zukunftsvisionen des 19. Jahrhunderts sich explizit als Experimente. Das berühmteste fiktive Zukunftsexperiment ist zweifellos H.G. Wells’ "Time Machine" (1895). Wells’ Zeitreisender, der die Zeit wie einen Raum durchfährt, trifft im fernen Jahr 802701 auf späte Exemplare der menschlichen Rasse. Deutlich kleiner als der heutige Mensch, sind diese "Eloi" genannten Wesen von "Dresden china type of prettiness", von porzellanener Schönheit.*5 Der Erzähler macht sehr deutlich, dass sie Ausdruck einer Spätzeit der Spezies sind, "the sunset of mankind".*6 Auffällig ist, dass sie einander in Not nicht helfen. Sie lachen viel, kennen kein Eigentum und keine Privatsphäre, keine familiären Bindungen und keine geschlechtsspezifische Kleidung. "Kommunismus" schließt der Zeitreisende schnell und räsoniert dann mit Darwin darüber, dass mit dem Wegfall von äußerer Gefahr auch die Notwendigkeit familiärer Strukturen aufgehoben ist. "Where violence comes but rarely and offspring are secure, there is less necessity – indeed there is no necessity – for an efficient family, (…). We see some beginnings of this even in our time (…)."*7 Die Menschen der fernen Zukunft brauchen keine Familien, keine Geschlechterrollen und kein Privateigentum mehr, weil sie keinen Kampf ums Überleben mehr führen müssen – so glaubt jedenfalls der Zeitreisende. Später entdeckt er bekanntlich eine zweite spätmenschliche Spezies, die blassen, haarigen und unter der Erde lebenden "Morlocks", die die Elois jagen und fressen. Der übermäßigen Zivilisiertheit der oberirdischen Rasse entspricht die vollkommene Barbarei der unterirdischen Rasse. Die späte Menschheit, so Wells’ düstere Prognose, wird sich in zwei Rassen aufgeteilt haben, die zueinander in einem Räuber-Beute-Verhältnis stehen. Die Armen und Arbeitenden sind zu Morlocks geworden, die Reichen zu überkultivierten Eloi. Soziale Ungleichheit wird sich irgendwann ins Erbgut des Menschen eingeschrieben haben, und beide Rassen haben damit etwas verloren, was notwendig zur Vorstellung menschlicher Zivilisation gehört: die Eloi jegliche Form von sozialer Bindung, die Morlocks das Verbot, Menschen zu essen. Ganz ohne Katastrophe imaginiert Wells so die biologische Selbstabschaffung des Menschen im Versuchslabor einer Zukunft, die er als Extrapolation gesellschaftlicher und evolutionstheoretischer Trends seiner Gegenwart, also des späten 19. Jahrhunderts, ausmalt: Die Ausbeutung einer Klasse durch die andere wird sich zum Kannibalismus der Ausgebeuteten wenden; die Verschärfung der Klassengegensätze wird sich genetisch in die Körper der Menschen einschreiben und sie als Rassen auseinander treiben; die Emanzipation der Frauen wird zur Auflösung von Geschlechterrollen und damit zum Ende der Familie führen. Die Gesellschaft der Zukunft, so das Resultat von Wells’ Denkexperiment, erwächst gleichermaßen aus einem Zerfall sozialer Bindungen und einer tiefgreifenden Transformation der Körper.
 

Transhumanismus

   Wells’ Szenario kann als modellbildend für einen bestimmten Typ des anthropologischen Zukunftsentwurfs gesehen werden, der ein ganz anderes – nicht apokalyptisches – Ende des Menschen imaginiert: eine Selbstüberschreitung des Menschen, die in einen anderen Körper, eine andere Zivilisation und andere soziale Bindungen münden wird. Diese dezidiert transhumanen Entwürfe eines Menschen der fernen Zukunft, die etwa Olaf Stapledon und Aldous Huxley – in ebenfalls darwinistischem Theorierahmen – und neuerdings Michel Houellebecq vorlegen, stehen genau in dieser Tradition, die genetische Zukunft des Menschen zu imaginieren.*8 Auch Huxley und Houellebecq setzen an einer organischen Transformation des Menschen an, um zukünftige Gesellschaft – oder eben Gesellschaftsunfähigkeit – zu erklären. Huxleys "Brave New World" (1932) entwirft eine Vergnügungsgesellschaft, die eine bis in die individuellen Körper durchgreifende Ausdifferenzierung des Menschen vornimmt, indem sie bestimmte Föten in ihrer Entwicklung schädigt, um sie zu primitiven Arbeitssklaven heranzuzüchten. Die genetische Streuung von Fähigkeiten wird so künstlich gesteuert, es werden biologische "Kasten" erzeugt. Und ähnlich wie das sorg- und bindungslose Leben der Eloi ist auch Huxleys Schöne Neue Welt eine Gesellschaft, in der soziale Nahebindungen wie Familie oder Liebesbeziehungen abgeschafft sein werden. Michel Houellebecqs gesamtes Werk, insbesondere aber "Die Möglichkeit einer Insel" (2005), das sich direkt auf Huxley bezieht, wird diese Auflösung des Sozialen noch deutlicher an ein Ende der menschlichen Sexualität und Verwandtschaftsverhältnisse binden. Die Neo-Menschen, die Houellebecqs Zukunft nach mehreren großen Klimakatastrophen bevölkern, sind Klone ohne Eltern, die isoliert voneinander leben, Kontakt nur durch elektronische Kommunikation haben und fast alle Bedürfnisse menschlicher Körperlichkeit – insbesondere Essen und Sexualität – hinter sich gelassen haben werden.

   Diese Entwürfe eines sich selbst überschreitenden Menschen blicken aus der Zukunft auf die gegenwärtige Verfasstheit des Menschen zurück als etwas, das steiger- und überwindbar ist. Sie sind Figuren einer biopolitischen Fantasie, die der Bruder Aldous Huxleys, der Biologe Julian Huxley, "Transhumanismus" genannt hat.*9 Diese nimmt den Menschen als Spezies in den Blick und sieht darin ein Feld für biopolitische Eingriffe. Ihr Ursprung ist zweifellos im Darwinismus zu suchen, aber auch heutige Debatten über demografische Entwicklung, Soziobiologie und Evolution des Menschen drehen sich um ähnliche Fragen.

   Das anthropologische Experiment, für das die ferne Zukunft den Denkraum bereitstellt, ist damit eines, das am Menschen als Organismus und Genotyp ansetzt und seine möglichen evolutionären Entwicklungen auslotet. Die Fragestellung dieses Experiments zielt genau auf jene Seite der Biopolitik, der es nach Michel Foucault darum geht, "Leben zu machen", die Herstellung des Lebens zu kontrollieren, zu beeinflussen und zu fördern.*10 In einer Kurzzeitperspektive betrifft das Fragen wie Gesundheitspolitik, Familienförderung und demografische Entwicklung. Die Pointe der Langzeitperspektiven von einigen tausend Jahren, die die fiktionalen Zukunftsszenarien entwerfen, liegt darin, dass sie etwas am lebenden Objekt beobachten, was bestenfalls Paläontologen retrospektiv entziffern können: langfristige Evolution. Und das wirft sehr spezifische Fragen auf, Fragen, die ohne die Fiktion eines Vorgriffs über Tausende von Jahren auch wissenschaftlich nicht zu beantworten sind: In welche Richtung entwickelt sich der Mensch als Spezies? Ist die Evolution – in Form der "natürlichen Selektion" – durch die moderne Zivilisation zu einem Ende gekommen, wie etwa der britische Genetiker Steve Jones behauptet?*11 Wird der Mensch irgendwann in der Lage sein, nachhaltig in sein eigenes Erbgut einzugreifen? Ist der Mensch evolutionär "verbesserbar"? Es sind diese biopolitischen Fragen der Vergangenheit und Gegenwart, die in den Szenarien des Transhumanismus bearbeitet werden.
 

Letzte Überlebende

   Das ist die eine Versuchsanordnung, die die Zukunft zum Raum eines anthropologischen Experiments macht. Aber es ist nicht die einzige. Mag die Zukunft Huxleys und Houellebecqs freudlos, aber doch recht komfortabel sein, so gibt es nicht wenige fiktionale Zukünfte, die den letzten Menschen in ein Krisenexperiment hineinstellen, das dem Horror von Byrons "Darkness" in nichts nachsteht. Seine modernen Nachfolger sind Filme wie Emmerichs "2012" oder Mimi Leders "Deep Impact" (1998). In beiden Filmen wird die kommende Katastrophe den überwiegenden Teil der Menschheit vernichten oder ihre Lebensgrundlagen entziehen. Aber man baut Archen (in "2012") oder einen riesigen Bunker (in "Deep Impact") für ein paar auserwählte (oder zahlungskräftige) Personen. Der Kampf um Nahrung, den Byron schildert, wird hier wieder aufgelegt als Dilemma des Rettungsboots: Wen können wir ins Boot nehmen? Wer wird gerettet? Wen lassen wir sterben?, fragen die Katastrophenfantasien des 20. und 21. Jahrhunderts.

   Worum es hier geht, sind nicht mehr Fantasien von der Überwindung des Menschen, sondern von sozialer Gerechtigkeit unter verschärften Bedingungen: Wenn die Ressourcen knapp werden, so dieses Szenario, müssen wir akzeptieren, einige sterben zu lassen. Thomas Malthus – Zeitgenosse von Byron und vielleicht sogar der heimliche Stichwortgeber hinter "Darkness" – hatte diese Argumentation schon um 1800 vorgetragen. Wenn nicht genug zu essen für alle da ist, werden einige eben verhungern. Heutige Fragestellungen greifen das wieder auf, nicht nur, was die drohende Überbevölkerung der Erde angeht, sondern auch, was etwa die Verteilung von Renten, Gesundheitsfürsorge oder Raum angeht. Weltenden und Großkatastrophen bieten uns Szenarien dafür, die Rhetorik, "das Boot ist voll", zunehmend klaglos hinzunehmen – uns also gleichsam darin zu üben, den Untergang anderer Menschen hinzunehmen wie Zuschauer im Kino.

   Werden in der akuten Katastrophe politische Entscheidungen vorgeführt (und damit nicht selten auch akzeptabel gemacht) sind die postapokalyptischen Szenarien eher ein Ausdruck von antizipierter Angst: Die Welt ist verdunkelt, die Menschheit bereits ausgelöscht, die Reste der Zivilisation liegen in Ruinen. Durch diese Welt schleppen sich letzte Überlebende, nicht mehr als evolutionärer Endpunkt der Spezies, sondern als deren Restbestand nach dem großen Sterben. Die Zukünfte, die hier entwickelt werden, sind nicht Ergebnis einer langen Transformation, sondern einer radikalen Zäsur: eines Atomkriegs, einer Naturkatastrophe oder einer Epidemie, die das menschliche Leben innerhalb kürzester Zeit weitgehend ausgelöscht hat.

   Weil solche Szenarien stets "kurz nach" der Katastrophe liegen, ist ihre erzählte Zeit meist ein Moment in naher Zukunft: In Arno Schmidts 1951 entstandener postapokalyptischer Erzählung "Schwarze Spiegel" ist es schon das Jahr 1960, in dem die Menschheit durch "Atombomben und Bakterien" weitgehend untergegangen sein wird.*12 In der "Terminator"-Serie kämpft die Menschheit ihren letzten Kampf gegen intelligente Maschinen im Jahre 2025, in Terry Gilliams Zeitschleifenfiktion "Twelve Monkeys" etwa 2030. In dem Epidemie-Szenario von "I am Legend" (2007) erfolgt der Ausbruch schon im Herbst 2012, in den folgenden Jahren beobachten wir den von Will Smith verkörperten Protagonisten dabei, wie er im von Gras überwucherten Manhattan Wild jagt und nach einem Gegenmittel für die grassierende Epidemie forscht, die die Mehrheit der Menschheit dahingerafft hat und eine kleine Gruppe mutieren ließ. Aber die wohl radikalste postkatastrophische Fantasie hat Cormack McCarthy mit seinem Roman "The Road" (2006) vorgelegt.*13 Hier ist erschreckend klar, dass die Trümmer und Abfälle, durch die sich seine Protagonisten schleppen, die Reste der Welt sind, in der wir heute leben.

   Anders als die Evolutionsszenarien sind die katastrophischen Zukünfte solche, die Leser und Zeitgenossen dieser Fiktionen durchaus noch erleben können. Entsprechend bearbeiten sie auch jeweils historisch naheliegende Ängste und Erwartungen: in den 1950er bis 1980er Jahren den Atomkrieg; in den 1990er Jahren den Krieg der "künstlichen Intelligenzen" – Roboter, Computer oder Aliens – gegen die Menschheit; in den 2000er Jahren Epidemien oder Natur- und Klimakatastrophen. Bezeichnend für diese Gedankenexperimente ist nicht nur, dass die Zukunft, in der sie spielen, unsere Zukunft ist; bezeichnend ist auch, dass die meisten dieser Katastrophen menschengemacht sind. Dennoch stellen auch diese Szenarien den Menschen auf den Prüfstand eines Experiments, dessen Fragestellung ähnlich ist wie die Byrons: Was bleibt übrig vom Menschen, wenn man ihm menschliche Gesellschaft, Zivilisation und zuletzt auch noch die Ressourcen der Natur wegnimmt?
 

Der Mensch verzehrt sich selbst

   Die meisten postkatastrophischen Zukunftsszenarien imaginieren den letzten Menschen in einer Landschaft von Gewalt, Mangel, Einsamkeit und dem permanenten Kampf ums Überleben. Die letzte Welt ist eine, in der keine Gesellschaft mehr existiert, sondern jeder nur noch für sich selbst kämpft. Der Plot von McCarthys "The Road" ist zugleich dramatisch und monoton: Ein Vater wandert mit seinem Sohn an der Ostküste der zerstörten USA entlang Richtung Süden. Das Wetter ist eisig, das Licht düster, es liegt Schnee. Da die Vegetation komplett abgestorben ist, gibt es weder Pflanzen, die man essen, noch Tiere, die man jagen könnte. Vater und Sohn ernähren sich von Müll, abgelaufenen Konserven und vergammeltem Obst – ständig kurz vor dem Verhungern. McCarthy stellt den Menschen so auf den äußersten noch denkbaren Prüfstand: Wovon kann man leben, wenn nichts mehr wächst? Wie verhält sich der Mensch in dieser Extremform der Ressourcenknappheit? Welche Verhaltensweisen, welche Vorsichtsmaßnahmen macht dieser Zustand notwendig? Und welche Formen von Gewalt generiert er?

   Die Antworten, die dieser Härtetest gibt, sind typisch amerikanisch. Was bleibt, sind zuletzt Durchhaltewille und Familienbande, die Liebe zwischen Vater und Sohn. Was bleibt, ist der Wille, "menschlich" zu bleiben. Worin dieses letzte Mensch-Bleiben besteht, zeigt sich aber gerade am Verhalten der anderen Menschen. Wo es nichts mehr zu essen gibt, werden Menschen die einzige Jagdbeute, die noch zu bekommen ist. Eine der wohl grässlichsten Szenen, die je ihren Weg in die Literatur gefunden haben, schildert die Entdeckung eines Kellers, in dem ein paar Leute eine Gruppe von Menschen eingesperrt haben, als menschlichen Fleischvorrat. Vater und Sohn entkommen nur knapp dem gleichen Schicksal. In einer rührend wortkargen Szene verständigen sie sich darüber, dass sie das niemals und unter keinen Umständen tun werden.


We wouldn’t ever eat anybody, would we?
No. Of course not.
Even if we were starving?
We’re starving now.
But we wouldn’t.
No. We wouldn’t.
No matter what.
No. No matter what.
Because we’re the good guys.
Yes.
And wer’e carrying the fire.
And we’re carrying the fire. Yes.
Okay.
*14


   Bei McCarthy wird die Frage des Kannibalismus zur Frage über Menschsein oder nicht mehr Menschsein. "Die Guten sein", "das Feuer zu bewahren" bedeutet, einen letzten Rest Zivilisiertheit in einer Situation zu bewahren, die für diese eigentlich keinen Raum mehr lässt. Ist der Kannibalismus der letzten Menschen bei Byron noch ein Detail in der Selbstzerfleischung der untergehenden Menschheit, so wird er bei McCarthy zum letzten Kriterium für das, was der Mensch gewesen sein wird. Die Auflösung des Sozialen, die dieser Typ des Katastrophenexperiments durchspielt, ist kaum weniger radikal als die des transhumanistischen Experiments. Die unglaubliche Brutalisierung der sozialen Verhältnisse, die diese Szenarien schildern, sind eine düstere Prognose auf das soziale Verhalten des Menschen am Rande des Überlebens. Nachdem er die Welt verbraucht oder zerstört hat, wird dem Menschen nur noch bleiben, seinesgleichen zu verzehren.
 

Wir letzten Menschen?

   Um so symptomatischer für ein aktuelles Zeitgefühl ist es, dass gerade diejenigen Zukünfte in so unheimlicher zeitlicher Nähe liegen, in denen die Welt und mit ihr der Mensch, seine Gesellschaft wie seine Zivilisation, irreparabel zerstört sein werden. Wo die evolutionstheoretischen Zukunftsentwürfe des späten Neo-Menschen eine durchaus aktuelle Biopolitik der Produktion und Steigerung des Lebens reflektieren, wo die Katastrophenszenarien recht brutale Antworten auf sehr aktuelle Verteilungsdebatten geben, da sehen diese postapokalyptischen Imaginationen das Leben heute auf seine Vernichtung zutreiben.

   Die Fiktionen vom Ende des Menschen sind intensive Verständigungen über die Gegenwart; eine Gegenwart, in der Knappheit, Dezivilisierung und nacktes Überleben als das verdrängte Unbewusste des Jetzt im Medium des Zukünftigen wiederkehren. Darum kann man diesen letzten Menschen, der im Ernstfall über seine Mitmenschen herfallen und sie verzehren wird, auch als Allegorie der Gegenwart lesen. Das Zeitgefühl, das die Figur des Menschen-Essens ausdrückt, ist ein Zeitgefühl des Aufzehrens. In ihm drückt sich ein Zukunftshorizont der zunehmenden Verknappung aus, in der gerade unter dem zivilisatorischen und wirtschaftlichen Überfluss immer wieder Fragen der gerechten Ressourcenverteilung, des sogenannten vollen Boots oder der angehäuften Schulden- oder Giftmüllberge hervortauchen. Was die letzten Menschen endgültig aufzuzehren scheinen, ist – nach dem Ende aller Ressourcen – die Zukunft der Menschheit selbst, jene Zeit, die dem Menschen bleibt, der vielleicht noch gar nicht weiß, dass er der letzte ist.

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Textverweise

*1 Alan Weisman, The World Without Us, New York 2007, S. 3.

*2 Vgl. dazu Eva Horn, Zukunft als Katastrophe. Prävention und Fiktion, Frankfurt/M. 2013 (i.E.).

*3 Jean Paul, Siebenkäs, in: ders., Sämtliche Werke, hrsg. von Norbert Miller, 1. Abteilung, Bd. 2, Darmstadt 1987, S. 273.

*4 George Gordon Lord Byron, Darkness, in: Stephen Greenblatt (ed.), Norton Anthology of English Literature, New York–London 2005, S. 614–616.

*5 Herbert George Wells, The Time Machine, New York 2002, S. 27.

*6 Ebd., S. 34.

*7 Ebd., S. 33.

*8 Vgl. Olaf Stapledon, Last and First Men, London 1930; Aldous Huxley, Brave New World, London 1932; Michel Houellebecq, La possibilité d’une île, Paris 2005.

*9 Vgl. Julian Huxley, Transhumanism, in: ders., New Bottles for New Wine, London 1957, S. 13–17.

*10 Vgl. Michel Foucault, Der Wille zum Wissen, Frankfurt 1983, S. 165.

*11 Vgl. Steve Jones, The Language of Genes. Biology, History and the Evolutionary Future, New York 1993.

*12 Arno Schmidt, Schwarze Spiegel, Frankfurt/M. 2006 (Erstausgabe 1951).

*13 Cormack McCarthy, The Road, New York 2006.

*14 Ebd., S. 136.

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Der Text erschien erstmals im Dezember 2012 in der Zeitschrift APuZ der Bundeszentrale für politische Bildung. Er wurde unter der Creative Commons Lizenz veröffentlicht (by-nc-nd/3.0/).

© Abbildung: U.S. Air Force, National Archives and Records Administration, Washington D. C.

Beitrag editiert von Stefan Vicedom

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Alle Forschung

Soft Rains – 

„This Is Not Water“ - Konfliktzentrum Wasserkraft in Zeiten grüner Paradoxie

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Janosch Birkert

 

Seit Jahrtausenden versucht der Mensch Naturraum für sich nutzbar zu machen, ihn zu formen. Technologischer Fortschritt befähigt den Menschen seit einigen Jahrhunderten dazu, einen Großteil des Naturraums auf unserem Planeten zu kontrollieren und seine bestehende Natürlichkeit in einen ökonomischen oder sozialen Mehrwert umzuwandeln. Vielerorts führt dies zu neuen ökologischen Zuständen, welche neben einem vollständigen Verlust von Biodiversität, auch eine künstliche Natur sein kann. Wasserkraft ist ein Teil dieser Geschichte der natürlichen Ressourcennutzung durch den Menschen. In den vergangenen Dekaden erfuhr sie einen zunehmenden Ausbau und verändert weltweit Natur-Mensch-Beziehungen. Was tun in Zeiten, in denen lokales Handeln und globales Denken nicht mehr ohne einander zu betrachten sind? Hintergrund Im Jahr 2016 wurden weltweit Wasserkraftanlagen mit einer Gesamtleistung von 31,5 GW installiert. In Südamerika verdreifachte sich der Ausbau im Vergleich zum Vorjahr. Für diese Entwicklung sind unterschiedliche Treiber verantwortlich. Neben nationalen Interessen, dem Bedürfnis nach Unabhängigkeit von internationalen Energiemärkten und dem Ausbau erneuerbarer Energien spielt insbesondere die Versorgungssicherheit für energieintensive Schwer- und Großindustrien eine große Rolle. Beispielhaft für diesen Zusammenhang wurden in Perus Minenregionen Großprojekte im Umfang von 1000 MW installiert.[1] Global werden jährlich ca. 4100 TWh Strom durch Wasserkraftwerke produziert, dies ist gleichzeitig der bisher größte Anteil durch erneuerbare Energien und entspricht einem Gesamtanteil von ca. 6,8 % am globalen Primärenergieverbrauch. Von 2005 bis 2015 wuchs die installierte Kapazität um 39%, was einem jährlichen Wachstum von 4% entspricht.[2] Die Internationale Energie Agentur, welche für ihre konservativen Prognosen im Bereich erneuerbare Energien bekannt ist), geht von einem Wachstum des Wasserkraftsektors bis 2025 um weitere 25% auf über 5.000 TWh, bis 2050 auf über 10.000 TWh aus.[3] Die Treiber Anfang der 2000er Jahre wurde der Ausbau von Wasserkraft insbesondere durch den Clean Development Mechanism begünstigt. Der „Mechansimus für Umweltverträgliche Entwicklung“ erlaubte internationalen Geberländern, Entwicklungsländer am globalen Klimaschutz zu beteiligen und gleichzeitig Energietechnologien zu exportieren oder „Best-Practice“-Projekte im internationalen Kontext zu finanzieren.[4] Der vereinbarte Mechanismus unterstützt Unternehmen der Industrienationen eine freiwillige Kompensation von Klimaleistungen durch den Ausbau von erneuerbaren Energien im globalen Süden. Die durch diese Maßnahmen vermiedenen Emissionen können dann durch eine mengenbezogene Bepreisung gehandelt werden – das sogenannte Offsetting. Auf diese Art und Weise können Unternehmen bis heute ihre unvermeidbaren Emissionen „klimaneutral“ schalten und ermöglicht eine Querfinanzierung von Umsetzungen diverser „Klimaschutzprojekte“ weltweit.[5] Wie auch in Peru werden insbesondere auf dem afrikanischen Kontinent überteuerte Großprojekte im Bereich Wasserkraft umgesetzt. Diese intensiven Einschnitte in Ökosysteme, beispielweise dem Kongobecken, haben nicht etwa zum Ziel, die energetisch unterversorgte afrikanische Bevölkerung durch günstigen Strom innerhalb ihrer Wertschöpfung zu fördern, sondern international agierenden Minen- und Bergbauunternehmen eine permanente und stabile Energieversorgung bereitzustellen. Dies ist nicht nur eine Beschleunigung der exportorientierten Wertschöpfung im Land, sondern auch ein Treiber für wachsende globale Ungleichverteilung von Einkommen und Ressourcen, da der Großteil der Kongolesen weder durch Steuergewinn noch durch staatlich geförderten Aufschwung am Gewinn durch den Abbau oder die Nutzung ihrer natürlichen Ressourcen beteiligt wird. Das kongolesische Grand-Inga-Staudammprojekt wird nach Fertigstellung voraussichtlich doppelt soviel Strom produzieren wie der chinesische Drei-Schluchten-Staudamm. Auf dem afrikanischen Kontinent sind immer noch mehr als 600 Millionen Menschen ohne Zugang zum Stromnetz und gleichzeitig ein Großteil der Stromtrassen bereits in privater Hand. Gefördert wird dieser industriefreundliche Ausbau insbesondere durch Finanzierungsmechanismen rund um die internationale Zusammenarbeit und der Entwicklungshilfe.[6] Die Konflikte Die Nutzung von Wasserkraft führt weltweit zu verschiedenen Formen von Nutzungs- und Ressourcenkonflikten. Von geopolitisch großer Bedeutung sind meist transnationale Ober- und Unterliegerkonflikte,[7] in wasserarmen Regionen, die durch den Bau von Großwasserkraftanlagen zusätzlich unter Druck geraten.  Beispielhaft dafür steht der geplante Bau der „Renaissance“-Talsperre im Blauen Nil in Äthiopien. Dieser Bau hätte bedingt durch Verdunstung und den Rückhalt von Flussfracht (Sedimenten) Auswirkungen auf die ägyptische Landwirtschaft, die vollkommen vom Nil abhängig ist und deren Vulnerabilität in Zeiten starker Urbanisierung und Klimawandel steigen wird. Mit dem Bau dieser Talsperre versucht Äthiopien, seine Position in Ostafrika zu stärken. Stromerzeugung, landwirtschaftsfreundliches Bewässerungsmanagement und Hochwasserschutz waren hierbei die entscheidenden Argumente, die Staaten innerhalb des Einzugsgebietes Nil in einem Bündnis mit dem Namen „Nilbecken-Initiative“ (NIB) zusammenschließen. Bisher nicht beigetreten: Ägypten.[8] Ähnlich zugespitzt ist der Konflikt zwischen Tadschikistan und Usbekistan, rund um den Bau des Rogun-Damms. Dort spielen Baumwollproduktionen, energiepolitische Unabhängigkeit und eine unbedachte Bauplanung zu politischen Drohgebärden und diplomatischem Stillstand.[9] Neben den transnationalen politischen Konflikten, sind insbesondere die negativen Auswirkungen auf soziale und ökologische Zustände, im lokalen Kontext, welche durch den Bau von Wasserkraftanlagen entstehen können. Dort spielen die klassischen Nutzungskonflikte zwischen Landwirtschaft (Wasserspeicher für Trockenzeiten) und Wasserkraftbetreiber (Wasserrückhalt für Winterzeit wegen erhöhtem Energiebedarf) in Regionen mit etablierter Landwirtschaft die Hauptrolle, während es hingegen, insbesondere bei Großinfrastrukturprojekten, in Off-Grid oder strukturschwachen Regionen, zu einer Vielzahl an Konfliktlinien zwischen den jeweiligen Akteuren kommen kann. Aus sozioökonomischer Sicht ist die langfristige Teilhabe an der Wertschöpfung für lokale Communities oftmals nicht vorgesehen. Das Recht auf Wasser und lokale Mitbestimmung über die Nutzung von Wasserressourcen kann durch eine neoliberale Wasserpreisberechnung oder Gesetzgebung ausgehebelt werden. Eine ganzheitliche Bewertung von Umweltrisiken nach internationalem Standard und unter Berücksichtigung der lokalen Akteure und Key-Stakeholder ist vielerorts noch kein etabliertes oder transparentes Verfahren. Das bewusste Exkludieren lokaler Akteure und ökologischen Kriterien in Entscheidungsprozesse während der Planungsphase kann zu lokalen Protesten, sozialen Unruhen und Widerstandsbewegungen führen.[10] Ökologisch betrachtet kann Wasserkraft als klimafreundliche Energiequelle bezeichnet werden, doch kann sie im lokalen Kontext durchaus negative Auswirkungen auf die Ökosysteme, Biodiversität und Klima haben. Neben der Freisetzung von Methan, dem Verlust von Kohlenstoffspeichern durch Flutung von Waldflächen, haben (Groß-) Wasserkraftprojekte das Potential endemische Arten und einzigartige Ökosysteme verschwinden zu lassen oder sie durch negative Auswirkungen auf die Umwelt unter Druck zu setzen. Eine weitere Begleiterscheinung ist insbesondere der intensive Ausbau der Infrastrukturen in zuvor strukturschwachen Regionen. Der Bau des Tucurui-Damms in Brasilien hatte erhöhte Abholzungsraten in einem Gebiet von 1000 km2 rund um neue Wasserkraftanlage zur Folge, da der Ausbau des Straßennetzes im Zuge des Großprojektes eine ökonomische Bewirtschaftung von unberührten Waldgebieten ermöglichte.[11] Die Modelle Viele dieser lokalen Auswirkungen auf bestehende soziale, ökologische und sozial-ökologische Systeme sind in dem von Rockström et al. beschriebenen System der Planetary Boundaries wiederzufinden. Der Ansatz beschreibt die Grenzen der Belastbarkeit für das bestehende Erdsystem durch anthropogene Übernutzung, darunter der starke Einfluss des Menschen auf den natürlichen Wasserkreislauf.[12] Betrachtet man Wasserkraftgroßprojekte im Sinne des Anthropozän nach Crutzens „Der Mensch als geologische Kraft“ sind die weltweit errichteten Dämme und Eingriffe in natürliche Wasserkreislauf- und hydrogeologische Systeme durch Begradigung und Übernutzung in Ihrer Wirkung und Unumkehrbarkeit so immens, dass der vermeintliche natürliche „Urzustand“ vielerorts wohl unwiederbringlich verloren ist.[13] Doch wie die Brücke schlagen zwischen den lokalen und realen Ereignissen und den globalen Modellen und Szenarien? Nutzt man ein sozial-ökologisches System (SES)[14] zur Modellierung des Verhältnisses zwischen Gesellschaft und Natur im Kontext der Wasserkraft, fällt schnell auf, dass sowohl Natur (Klimaschutz vs. Biodiversität) als auch Gesellschaft (Local Community vs. Wasserkraftbetreiber/Stromabnehmer) in einem bipolaren SES nicht darstellbar sind. Vielmehr stehen sich ökologische und gesellschaftliche Systeme untereinander konträr gegenüber. Skaliert man dieses Konfliktbild, ein multi-polares SES, von lokal zu global wird deutlich, dass hier ein Paradox vorliegt. Ökologischer und sozioökonomischer Mehrwert (Marktwert) auf globaler Ebene kann demnach einen Verlust sozialer und ökologischer (sowie sozial-ökologischer) Systeme im lokalen Kontext hervorrufen (Verlust Existenzgrundlage und Lebensqualität). Fügt man der multipolaren sozial-ökologischen Betrachtungsweise eine ökonomische Dimension hinzu, wird schnell klar, dass der Treiber für diese Ambivalenz eine marktbedingte Entwicklung der Energiemärkte und der gewinnorientierten Ausrichtung von Energieabnehmern ist. Eine ethische Dimension als Filter und Regulator ist nicht zu erkennen.[15] Sowohl Karl Marx (1867)[16] als auch Christophe Bonneuil (2015)[17] sehen nicht primär „den“ Menschen als Treiber für diese starke anthropogenen Überformung von Naturraum. Sie sprechen von einem „ungleichen (ökologischen) Tausch“ ausgehend von den wertschöpfungsgetriebenen Industriestaaten, durch die permanente Ausbeutung von Natur und Teilen Weltgesellschaft durch eine „kapitalistische Elite“. Denn klar ist, und deshalb ist die sozial-ökologische Perspektive so relevant für die Interpretation der anthropogenen Dominanz und deren Folgen auf dem Erdsystem, dass es neben dem unumkehrbaren Verlust an Naturraum der Mensch selbst ist, der unter seiner eigenen Dominanz leidet - in Zeiten „des Kapitalozän“?[18] Das Werk In ihrer Videoinstallation (Beitrag zur Ausstellung „There Will Come Soft Rains?“, Basis, Frankfurt am Main 2018) setzt sich Carolina Caycedo, die Künstlerin der Installation, mit dieser Entstellung der ursprünglichen sozio-hydrologischen Beziehung zwischen natürlichem Strom und gewinnorientierter Ressourcennutzung am Beispiel der Großwasserkraftanlagen in Südamerika auseinander. Sie erlaubt die Bändigung des Großen Flusses, dreht ihn, wendet ihn beliebig im Film, zähmt ihn, lenkt seine Kraft. Für den einen bildet diese Aufhebung der Natürlichkeit eine Harmonisierung und die Steigerung der Attraktivität ab, für den anderen Betrachter wirkt es wie eine Entstellung, wie das Vorzeigen einer falschen Naturgewalt, einer Naturgewalt, die nicht mehr von sich behaupten kann „nur“ noch Natur zu sein. – „This Is Not Water“.[19] Es scheint bei der Betrachtung von „This Is Not Water“, dass sowohl durch die Wahl des Stilmittels als auch durch die Inszenierung des Betrachtungsgegenstandes „Epoche der Künstlichkeit, in der Natürlichkeit kein Referenzpunkt mehr ist“, in den Fokus gerückt wird. Aber sind wir wirklich „nach der Natur“, wirklich im Anthopozän? Oder ist unsere Dominanz innerhalb des Erdsystems nicht vielmehr ein Teil der Natur, den sie im Laufe ihrer Entwicklung durch ihre resiliente Stärke korrigiert und in ihr Gedächtnis aufnimmt? „Nature after Nature“?[20] Selbst wenn wir Natur in ihrer vermeintlichen Reinform betrachten, sind doch wir es, die sie bewerten, aus anthropogener Perspektive. Kehren wir also zurück zu Marx (Pariser Manuskript 1844): „Die in der menschlichen Geschichte (...) werdende Natur ist die „wirkliche Natur“ des Menschen, darum die Natur, wie sie durch die Industrie, - wenn auch in „entfremdender“ Gestalt – wird, die wahre anthropologische Natur ist.“ Spät haben wir durch Wissenschaft und Philosophie eine säkulare Auffassung von Wetter- oder Naturphänomenen dem mythischen Verständnis entgegensetzen können. Heute müssen wir einen Schritt weiter gehen und akzeptieren, dass nicht nur physikalische Fremdbestimmung unsere Atmosphäre, unser Erdsystem beeinflussen, sondern dass wir es sind, die sich der „Sprache der Götter“[21] ermächtigten und sie nun sprechen lernen müssen.[22] Die anthropogene Überformung von Naturraum kann in vielen Modellen zum Ausdruck gebracht werden. Wichtig ist, dass der Mensch/die Gesellschaft in seinem Wirken auf Naturraum differenziert betrachtet und seine Wirkungskraft innerhalb des Erdsystems (positiver und negativer Impact) anerkannt und verstanden wird. Die Monetarisierung von ökologischem Verlust ist in seiner Bedeutung für unser Handeln immer noch nicht auf Augenhöhe mit den makroökonomischen Kennzahlen unserer Zeit. Schließen wir also mit einer Einschätzung des Wissenschaftliche Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen (WBGU) aus dem Jahre 2011, 4 Jahre vor dem Pariser Klimaschutzabkommen, welches uns bei aller theoretischen Euphorie, auf die realpolitischen Handlungsmöglichkeiten zurückführt: „Die Wasserkraft wird nur geringfügig ausgebaut, da ihr nachhaltiges Potenzial begrenzt ist.“ Und nehmen wir uns vor, diesen Ausbau im Auge zu behalten, ihn ganzheitlich zu gestalten und ihn um eine Vielzahl von Betrachtungsmöglichkeiten zu erweitern.[23] Text: Janosch Birkert Editing: Dr. Felix Silomon-Pflug, Marcela Scarpellini   Titlebild: Carolina Caycedo, “Esto No Es Agua / This Is Not Water”, 2015 Film still 1 channel video HD, Sound and Color, 5’20’’, Sound: Daniel Pineda [1] Interntional Hydropower Association 2017 „Hydropower Status Report 2017“ S. 5, 42-48 https://www.hydropower.org/sites/default/files/publications-docs/2017%20Hydropower%20Status%20Report.pdf [2] World Energy Council 2016 „World Energy Resources 2016“ S. 16 https://www.worldenergy.org/wp-content/uploads/2016/10/World-Energy-Resources-Full-report-2016.10.03.pdf [3] International Energy Agency 2017 „Tracking Clean Energy Process 2017“ Energy Technology Perpectives 2017 Excerpt Informing Energy Sector Transformation S. 26 https://www.iea.org/publications/freepublications/publication/TrackingCleanEnergyProgress2017.pdf [4] Deutscher Bundestag 2016 „Clean Development Mechanism als Instrument der Entwicklungspolitik“ WF VIII – 025/2006 und WF II – 016/2006 https://www.bundestag.de/blob/415004/205d5d3d4a92205495ed17e6122f0773/wf-ii-016-06-pdf-data.pdf [5] Heute wird der Clean Development Mechanism vom Pariser Klimaabkommen langsam abgelöst, geht es jetzt doch um das Reduzieren und nicht um das Kompensieren. Zudem sind neue Standards welche den ökologischen und sozialen Mehrwert der Projekte berücksichtigen zu Marktstabilisatoren geworden. Insbosondere im Bereich der „unvermeidbaren Emissionen“ ist dieser Kompensationsmechanismus durchaus im Sinne des Pariser Klimaabkommens. [6] Aurélien Bernier 2018 „Strom für Afrika“ Le Monde diplomatique deutsche Ausgabe https://monde-diplomatique.de/artikel/!5480793 [7] Konflikte zwischen den Ländern die im oberen Teil des Flusseinzugsgebietes liegen, mit den Ländern im unteren Teil, also stromabwärts [8] Habib Ayeb 2013 „Wem gehört der Fluss?“ Le Monde diplomatique, deutsche Ausgabe https://monde-diplomatique.de/artikel/!461436 [9] Régis Genté 2017 „Die große Mauer von Tadschikistan“ Le Monde diplomatique deutsche Ausgabe https://monde-diplomatique.de/artikel/!5379125 [10] Marcela Palomino-Schalscha et al. 2016 „Contested Water, contested development: unpacking the hydro-social cycle of the Nuble River, Chile; S.889, 897; Third World Quarterly Vol. 37, No. 5, S. 883-901; http://dx.doi.org/10.1080/01436597.2015.1109436  [11] Luke Gibson et al. 2017 Trends in Ecology & Evolution, December 2017, Vol. 32, No. 12; Elsevier Ltd. https://doi.org/10.1016/j.tree.2017.09.007 [12] Rockström et al. 2009 „Planetary Boundaries: Exploring the Safe Operating Space for Humanity“, Ecology and Society 14(2): 32 http://www. ecologyandsociety.org/vol14/iss2/art32/ [13] Skalak et al. 2013 „Large dams and alluvial rivers in the Anthropocene: The impacts of the Garrison and Oahe Dams on the Upper Missouri River“ Anthropocene 2 (2013) 51-64 [14] Hummel et al. 2011 „Social-Ecological Analysis of Climate Induced Changes in Biodiversity – Outline of a Research Concept.“ BiKF Knowledge Flow Paper Nr. 11, Februar 2011 http://www.bik-f.de/files/publications/kfp_nr-11_neu__71c3b9.pdf [15] Giovanni Frigo 2017 „Energy ethics, homogenization, and hegemony: A reflection on the traditional energy paradigm“ Energy Research & Social Science 30 (2017) 7–17, http://dx.doi.org/10.1016/j.erss.2017.06.030 [16] John Bellamy 2018 „Der Öko-Marx“ Le Monde diplomatique deutsche Ausgabe, Juni 2018 [17] Christophe Bonneuil 2015 „Die Erde im Kapitalozän“ Le Monde diplomatique deutsche Ausgabe, November 2015 [18] Siehe Fußnote 16 [19] Carolina Caycedo 2015 „ESTO NO ES AGUA / THIS IS NOT WATER“,Film Installation [20] Hartmut Böhme 2017 „Aussichten der Natur“, Matthes & Seitz Berlin, S. 12-16 [21] nach Lukrez Siehe Fußnote 20 [22] Hartmut Böhme 2017 „Aussichten der Natur“, Matthes & Seitz Berlin, S. 12-16, 70 [23] WBGU 2011 „Welt im Wandel Gesellschaftsvertrag für eine Große Transformation“ Wissenschaftlicher Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen https://www.wbgu.de/fileadmin/user_upload/wbgu.de/templates/dateien/veroeffentlichungen/hauptgutachten/jg2011/wbgu_jg2011.pdf  
Soft Rains – 

Die multiple Krise
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Ulrich Brand

Der 2009 erschienene Text des Politikwissenschaftlers Ulrich Brand untersucht den Ursprung, die Dynamik und den Zusammenhang gegenwärtiger Krisenphänomene.
Soft Rains – 

Das Verschwinden der Bienen, oder: Die Singularität des Tieres
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Srećko Horvat

Am aktuellen Beispiel des „Bienensterbens“ beleuchtet der Essay des Philosophen Srećko Horvat das allgemeine Verhältnis zwischen Mensch und Tier.
Soft Rains – 

Spekulative Biologie
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Dr. Pinar Yoldas

In ihrem Vortrag erläutert die Künstlerin und Wissenschaftlerin Pinar Yoldas ihr Konzept der "Spekulativen Biologie"
Soft Rains – 

BE DAMED - CAROLINA CAYCEDO

In her practice between art and activism, Carolina Caycedo developed a corpus of works, that questioned the production and distribution of hydroelectricity, and the colonization of nature. In 2018 her work Esto no es agua, part of her research on the social and environmental effects of dams, was part of the exhibition "There Will Come Soft Rains" at basis e.V. in Frankfurt am Main.
Soft Rains – 

Hat die Zukunft eine Zukunft? Über die Rückeroberung eines Imaginationsraums

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Stephanie Metzger

In ihrem Beitrag folgt Stephanie Metzger dem Potenzial der Zukunft als einem kreativen Vorstellungsraum